Schenkende Wirtschaft

Quelle
KursKontakte, Ausgabe 161, Februar 2009

Heiner Benking porträtiert den Ökonomen Manfred Kannenberg-Rentschler

Geld regiert die Welt – doch wer regiert das Geld?“ ist der Titel des Vortrags von Margrit Kennedy im Berliner Hebbel-Theater. Ich sehe viele bekannte Gesichter, unter ihnen auch das von Manfred Kannenberg-Rentschler. Das alte Thema „Zinseszins“ ist durch die Spekulationen auf den Finanzmärkten plötzlich wieder hochaktuell, die Immobilienkrise wurde zum Auslöser globaler Instabilität. Margrit Kennedy zeigt erste robuste Schritte durch die Entwicklung von lokalen und regionalen Komplementärwährungen auf. Wir sind beeindruckt von einigen vorgestellten Lösungen, wie zum Beispiel der brasilianischen Bildungswährung, dem „Saber“. Sie wird vom Kultusministerium an jüngere Schüler ausgegeben, die damit Nachhilfe von älteren Schülern bezahlen. Letztere geben diese wieder an Studenten weiter, die damit ihre Studiengebühren begleichen. Wir sind uns mit der Vortragenden aber einig, dass uns ein solches Modell nicht vor dem Schlamassel des Finanzmarkts bewahren kann.

Ich frage Manfred Kannenberg-Rentschler, wie denn seiner Meinung nach eine grundlegende Lösung aussehen könnte. Lokale Alternativwährungen seien für ihn eine interessante Teillösung, meint er, denn diese förderten den lokalen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Trotzdem seien es sektorale Insellösungen, denn es bleibe die Frage, wie wir den internationalen und interkulturellen Austausch zukünftig gestalten wollen. Wichtig sei die hinter dem heutigen Geldsystem liegende Bewusstseins- und Ordnungsfrage, die ihn schon lange beschäftige. „Wir haben Erkenntnisschulden“ sagt er und drückt mir sein Papier mit dem Titel „Die Bewusstwerdung unserer Finanzströme wird Menschenschicksal“ (für ein „Wörterbuch der Wohlstandsirrtümer“) in die Hand. Das weckt meine Neugierde, und wir verabreden uns zu einem weiteren Gespräch bei ihm zu Hause, im Gartenhaus einer früheren Schmiede, die in der Nähe seiner ehemaligen Buchhandlung liegt.

Der Volkswirt hinter dem Buchhändler

Als Buchhändler und Verleger ist mir der gesellschaftspolitisch engagierte Mittsechziger seit langem bekannt. Er ist ein liebenswerter Quergeist, der seit 1976 einen kleinen, aber feinen Buchladen im alten Berliner S-Bahnhof Mexikoplatz betrieb. Der im Jugendstil erbaute Bahnhof mit seinen markanten Kuppeln steht heute unter Denkmalschutz, Ende der 70er-Jahre war er eine vergessene Stätte am Rand der geteilten Stadt und als S-Bahnhof jahrelang außer Betrieb. Manfred Kannenberg machte aus ihm ein Zentrum für alternatives und engagiertes Denken, wo man neben anthroposophischen Werken philosophische und wissenschaftliche Schätze des geistigen Lebens entdecken konnte. Hier fanden Lesungen und Gesprächsrunden statt, und das Institut für geisteswissenschaftliche und soziale Fragen entstand. Als die Räumlichkeiten des Buchladens – als Teil des S-Bahnhofs in öffentlichem Besitz – 2001 privatisiert wurden, sollte nach 25 Jahren der Buchladen verschwinden. Im Bezirk gab es einen kleinen Aufstand, denn längst war er zu einem liebgewordenen Bestandteil von Berlin-Zehlendorf geworden. Es bildete sich sogar eine Bürgerinitiative „Kulturbahnhof Mexikoplatz“. Doch alle Proteste und Unterschriftenlisten konnten nicht verhindern, dass die Buchhandlung ausweichen musste. Am neuen Standort – einer alten Apotheke im selben Stadtteil – ließ sich der ursprüngliche Geist nicht wiederbeleben. Nach vier Jahren widerfuhr Manfred Kannenberg das Glück, dass er eine Nachfolgerin für den Buchladen fand und so das Vermögen umwidmen konnte. Nun konnte er sein Lebensumfeld ändern und zu neuen geistigen Ufern aufbrechen.

„Schenkungs-Ökonomie“ ist das Thema, das ihn jetzt umtreibt. Ich frage ihn, wie er darauf gekommen sei. Seine erste Antwort: „Wir haben den Buchladen nur aufziehen und durchhalten können, weil uns einige Leute ihr Geld geliehen und schließlich sogar geschenkt haben, als sie sahen, dass wir gemeinsame Intentionen erfolgreich umsetzten. Denn Kultur-, Gesellschafts- und Bildungsaufgaben rechnen sich nicht kurzfristig.“

Volkswirtschaftliche Schenkungen waren ihm schon aus dem anthroposophischen Umfeld bekannt, erzählt er mir, außerdem habe er schon während seines Studiums in den USA Kontakt zu Gruppen gehabt, die mit alternativen Wirtschaftsmodellen experimentierten, wie zum Beispiel die „Diggers“. Diese – ursprünglich in England gegründete Gruppe – glaubt an wirtschaftliche Gleichberechtigung und beruft sich dabei auf das Lukas-Evangelium. Sie gründete kleine ländliche Kommunen mit Gemeinschaftseigentum und stellte sich außerhalb der gesellschaftlichen Wirtschaftsordnung, indem sie unter anderem Steuerzahlungen verweigerte.

Unser Gespräch kreist immer wieder um die Förderung von sinnvollen gesellschaftlichen Projekten. Das Entwerfen von sozialen Zukünften – so kommt es mir vor – sind Manfreds Lebenselixier, sein Denken ist sehr konkret und beruht auf einem breiten Fundus von Erfahrungen, Fachwissen und Einsichten. Er ist für mich ein Philosoph und Generalist, nicht nur ein Buchhändler.

Manfred Kannenberg-Rentschler

Ich erfahre, dass er gelernter Industriekaufmann bei Siemens war und dort die Widersprüche der privatkapitalistischen Produktionsweise erlebte, was ihn zum Studium der Volkswirtschaft und Sozialwissenschaften bewog. Dieses absolvierte er in den 60er-Jahren in München und Berlin, zwischendurch auch in Nashville/USA. Nach seinem Abschluss machten ihm seine ehemaligen Siemens-Kollegen das Angebot, die betriebsinterne Ausbildung am neuen Standort Siemensstadt in Berlin mit aufzubauen. Noch heute identifiziert er sich mit den damaligen innovativen Unterrichtsmethoden, wie der Sandwichmethode oder betriebsbezogenem Phasenunterricht. Doch das am „Shareholder Value“ ausgerichtete Denken der Siemenskultur wurde ihm immer mehr zuwider. Zudem wurden Schüler ausgegrenzt und sanktioniert, wenn sie unkonventionelle Kleidung trugen und lange Haare hatten. Er setzte sich mit wechselndem Erfolg gerade für diese originellen und meist hochbegabten Schüler ein. Doch nach zwei Jahren verabschiedete er sich von Siemens und beendete eine scheinbar garantierte, „lebenslange“ Karriere.

Für ihn, dessen Familie im Krieg von Pommern Richtung Westen an die Nordsee vertrieben worden war, waren die Teilung Deutschlands und das darauffolgende „Wirtschaftswunder“ als das Hohe Lied des bloß privaten Kapitalgedankens die größte Herausforderung und Ausgangspunkt seines Suchens nach persönlichen und gesellschaftlichen Alternativen. Er beschäftigte sich nun zunehmend mit den Ideen von Rudolf Steiner. Auf dem Achberg, der Kreativwerkstadt der Anthroposophie, kam er mit der Avantgarde der sozialen Gestalter und Utopisten zusammen, unter ihnen auch der Künstler Joseph Beuys und sein späterer Mentor Hans Georg Schweppenhäuser. Letzterer gründete zusammen mit Robert Jungk, dem Entwickler der Zukunftswerkstätten, in Berlin ein Institut für Gegenwartsfragen, das Manfred Kannenberg mitgestaltete. Dort wurden Themen behandelt, die im öffentlichen Diskurs wenig Gehör fanden, wie der ökologische Umbau der Gesellschaft, das soziale Eigentumsrecht, ein organisches Geldwesen, bedarfsorientiertes Wirtschaften und neue gesellschaftliche Bündnisse.

Nach zwei Jahren Suche galt es nun, eine sich wirtschaftlich tragende Basis zu finden. Mit seiner Frau Brigitte Rentschler, die er 1974 im anthroposophischen Umfeld in der Schweiz kennengelernt hatte, und seinem Studienkollegen und Freund, dem TAZ-Mitgründer und Freund Karl Huober, gründete er die „Bücherei für Geisteswissenschaft und Soziale Fragen“ am Mexikoplatz. Seine Frau Brigitte ist von Beruf Heiltherapeutin, widmete sich aber nun mit großem Engagement der Entstehung und Erhaltung des Buchladens sowie der Erziehung ihrer drei gemeinsamen Kinder. Diese besuchten eine Berliner Waldorfschule, obwohl Privatschulen in ihrem damaligen links-alternativen Umfeld mit Argwohn betrachtet wurden. Wie viele aus der links-alternativen Szene zu jener Zeit lebte die Familie in experimentellen Wohngemeinschaften; sie wuchsen und reiften an den Unterschieden. Inzwischen sind die drei Kinder erwachsen, ein Enkelkind wurde geboren, und Brigitte Rentschler arbeitet wieder als Heiltherapeutin.

Als ich Manfred frage, ob denn auch sein Wirkungsbereich mit Heilen und Pflegen zu tun habe, spricht er von der Verantwortung für das Ganze, die im Kleinen und im Detail zum Ausdruck komme und dann auch wieder im Großen und Ganzen. Er verweist dabei auf die letzte Ausgabe der „KursKontakte“ mit dem Schwerpunkt Schenkökonomie, die genau auf dieses Themenfeld abhebt. Ein altruistisches, mütterliches Schenken, wie es dort von Geneviève Vaughan vertreten wird, sei wichtig und ein gutes Beispiel für Selbstlosigkeit, ohne die eine Gesellschaft nicht existieren könne. Auch die Praxisbeispiele der Eurotopia-Redaktion findet er sehr hilfreich, da dort auch praktische Probleme angesprochen werden, wie sich zum Beispiel ein Mitglied einer bargeldlosen Schenker-Gemeinschaft auch außerhalb dieser bewegen könne, denn dann müsse man etwas Akzeptiertes, Bares, Konkretes in der Tasche haben.

Wirtschaft als sozialer Organismus

Für Kannenberg gibt es vier Arten der Schenkung, die das Leben der Menschen tragen können: Das ethisch-individuelle und das betriebswirtschaftliche Schenken auf der einen Seite, sowie die gesamtwirtschaftliche Schenkung und eine Zwangsschenkung durch staatliche Steuern auf der anderen Seite. Er unterscheidet zwischen einer Schenk-Ökonomie und einer Schenkungs-Ökonomie. Die Beispiele aus der Praxis alternativer Gemeinschaftsmodelle repräsentieren für ihn die erste Art des individuellen Schenkens. Ihn interessieren jedoch gerade Modelle, die über das Leben und Schenken in einer bestimmten Gruppe oder Gemeinschaft hinausgehen.

Für ihn bezieht sich Wirtschaft als Ganze auf einen sozialen Organismus. Als solche erstreckt sie sich über die ganze Erde, organisiert Waren und Dienstleistungsströme und bringt deren Bewertung hervor. Im Gegenstrom dazu entsteht deren Entwertung durch Verbrauch. Dazu gehören Tauschvorgänge, Kredite für Investitionen und die Erzeugung von Überschüssen, die in die Produktivität des geistig-kulturellen Lebens fließen. Letztere können auch wieder wirtschaftliche Relevanz erzeugen, die aber erst in der Zukunft liegt.

Neben der rein wirtschaftlichen Warenzirkulation existieren allerdings auch Rechte, wie die autonome Menschenarbeit und Verfügungsrechte über Grund und Boden und Produktionsmittel. Diese dürfe man nicht versteuern oder verzinsen, denn Rechte sowie geistige Fähigkeiten seien nicht marktfähig und somit auch keine Waren.

Eine schenkende Wirtschaft gestaltet bewusst die Entwicklung und Förderung geistiger Fähigkeiten, indem sie „altgewordenes“ Darlehensgeld zur einmaligen Geldschöpfung für kulturelle Zwecke verwendet, anstatt weiter „totes“ Kapital zu verzinsen. „Anstelle der Lenkung von außen durch Staat, Privilegien, Macht und Marktmechanismen“, schreibt Kannenberg, „schafft sich der Soziale Organismus in der geschlossenen Wirtschaft (Weltwirtschaft) die Ausgleichsvorgänge zwischen diesen drei wertumlagernden Sphären (Kaufen, Leihen, Schenken) zum organischen Zusammenhang mit selbsttätiger Vernunft.“

Um sowohl das individuelle Schenken als auch die wirtschaftliche Schenkung als Grundlage der Lebendigkeit des Wirtschaftslebens in Wert zu setzen, bedürfe es eines sozialstrukturellen Umbaus der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang verweist mich Manfred Kannenberg wieder auf Rudolf Steiner, der schon im Jahr 1922 das Thema der volkswirtschaftlichen Schenkung in Bezug auf Weltwirtschaft und Geldorganismus abgehandelt hat (nämlich hier). An den dort erarbeiten Grundsätzen orientiere sich die genossenschaftliche, ethisch-ökologisch agierende Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken (GLS), die in Zeiten der „notleidenden Banken“ plötzlich sehr gefragt ist, weil sie nicht nur konsequent Transparenz ihrer Anlagen herstellt, sondern auch engagiert sozial-kulturelle Projekte fördert.

Wie zerronnen, so gewonnen!

Manfred und ich haben uns sofort verbunden gefühlt, als ich vom Schenken in meinem Lieblingsbuch „Die kleinen Leute von Swabedoo“ schwärmte. „Die kleinen Leute gaben und bekamen gerne weiche, warme Pelzchen, und ihr gemeinsames Leben war ohne Zweifel sehr glücklich und fröhlich“ zitieren wir beide …

Bei einem unserer Gespräche erzählt er mir, er fühle sich wie „Hans im Glück“. „Wie gewonnen, so zerronnen“ lautet die herkömmliche Moral des bekannten Volksmärchens. Zuerst gab er seine gut dotierte und „garantierte“ Lebensstellung bei Siemens auf, gewann aber dadurch die Freiheit, sich auf die Suche nach sozial-utopischen Alternativen zu begeben und im Geist verwandte Freunde zu gewinnen.

Wenn ich mir die Geschichte von Manfred Kannenberg vor Augen halte, glaube ich, dass Schenken ansteckend ist und sich bei jedem Schenkungsakt die Energie des ursprünglichen Impulses verstärkt. Anschaulich erlebe ich das immer wieder bei der Moderation einer bestimmten Art von Rundgesprächen („Magic Round-Tables“), bei der die Teilnehmenden ermutigt werden, ihre ursprünglich zugeteilte Redezeit zu verschenken und auf diese Weise in Zuhörzeit zu verwandeln. So entsteht eine wechselseitige Bereicherung, die eine neue Gesprächskultur fördert, etwas, worin Kannenberg wahrscheinlich eine „gemeinschaftliche, kreative und qualitative Wertschöpfung“ sehen würde.

In einem Papier zur Abwicklung seiner Bücherei schreibt Manfred Kannenberg: „Vielleicht steht am Anfang meiner Suche nach dem Wesen der Schenkung der Impuls des Erbauers und Eigentümers Fürst Donnersmarck, der den Bahnhof am Mexikoplatz 1908 der Öffentlichkeit geschenkt hat.“ Nachdem diese gesamtwirtschaftliche Schenkung im Jahr 2001 rückabgewickelt worden war, konnte man die damit einhergehenden fatalen, gemeinwohlmindernden Folgen wahrnehmen. Das Motto seiner damaligen Streitschrift: „Das war’s – noch lange nicht“ wird ihm heute zur neuen Aufgabe: Es geht ihm darum, das öffentliche Interesse und Bewusstsein auf die Symptome der Nicht-Schenkung, das heißt, der Nicht-Verwandlung des investierten Kapitals zu lenken. Ein „Lesebuch der Schenkungsökonomie“ hat er seit einem Jahr in Arbeit.

Ich bleibe nachdenklich zurück nach unseren Gesprächen. Die Sonne, die Erde und das Leben sind schenkende Systeme, sie haben und nennen keine Preise. Eine lebendige Wirtschaft nach Kannenberg scheint lebensnahe, nachhaltige und systemische Gesetze auch in der Ökonomie zu sehen – in dem „Zerronnenen“ das „Gewonnene“ zu erkennen.

Heiner Benking ist freier Journalist in Berlin und Initiator des Open Forum, einer Gesprächs- und Entscheidungskulturinitiative.