Zukunft entsteht aus Krise

01.01.2009

Angestoßen durch das dritte sozialwissenschaftliche Forum in Berlin, möchte ich an dieser Stelle nochmal einen kleinen Nachtrag machen. Geseko v. Lüpke führt in seinem Buch »Zukunft entsteht aus Krise« Gespräche mit Nobelpreisträgern und alternativen Nobelpreisträgern, renommierten Natur- und Geisteswissenschaftlerinnen, Philosophen und Aktivistinnen aus fast allen Bereichen der Zivilgesellschaft. Dabei wird sehr deutlich, daß wir Formen des Zusammenlebens brauchen, die einem neuen Welt- und Menschenbild entsprechen. Die Strukturen eines mechanistischen Weltbildes sind überholt und führen in eine Sackgasse. An Ihrer Stelle entstehen wieder Fragen nach dem Lebendigen. Beispielhaft habe ich versucht einige Textstellen aus der bunten Vielfalt zusammen zu stellen.

Elisabeth Weber

Zukunft entsteht aus Krise

Sag nie, dass etwas unmöglich ist!
Im Dialog mit dem Quantenphysiker Hans-Peter Dürr

[…]

Die Krise, vor der wir stehen, ist sicher an der Wurzel eine Krise der Wahrnehmung. Unsere moderne Kultur hat irgendwann einmal die von uns wahrgenommene Wirklichkeit, unsere Welt, zur dinglichen Realität kastriert, damit wir sie gedanklich erfassen und sie - für uns lebensdienlich von außen - manipulieren können.[…] Wir brauchen ein neues Welt- und Menschenbild, um uns hier besser hinein zu denken.

Worauf müsste das basieren?

Letztlich auf den revolutionären Erkenntnissen der neueren Physik, die aber auch schon über 100 Jahre alt sind. Es war Max Planck, der 1900 die ersten entscheidenden Hinweise lieferte, und der junge Werner Heisenberg, dem 1925, also 25 Jahre später, eine überraschende Erklärung oder besser eine unorthodoxe Interpretation gelang. Das Erstaunliche dabei ist, dass diese neuen Erkenntnisse bis zum heutigen Tag noch kaum intellektuell rezipiert worden sind. Und dies nicht etwa, weil sie zu keinen wesentlichen Konsequenzen geführt hätten.Im Gegenteil, die Folgen waren nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die technische Entwicklung atemberaubend. Daraus haben sich nicht nur die gesamte Atomindustrie samt ihren schrecklichen Waffen, sondern auch die chemisch- medizinische Großindustrie, die gesamte Mikroelektronik und die modernen Kommunikantionstechnologien entwickelt. Trotzdem scheint es, als würden die erkenntnistheoretischen Konsequenzen einfach ausgegrenzt. Der Grund für die mangelhafte theoretisch inhaltliche Aufnahme der modernen Physik im Vergleich zur praktischen und technischen Akzeptanz liegt zweifellos darin, dass die moderne Physik so andersartig ist, dass jeder zunächst sagt:»Das kann doch nicht war sein! Das ist so paradox, dass wir es nicht verstehen« Die moderne Physik fordert ein grundsätzlich neues Denken.[1] […]

Was ist der wesentliche Unterschied zwischen der alten und der neuen Sichtweise? Und was bedeutet das für unseren Umgang mit Zukunft?

Das klassische Weltbild ist uns allen geläufig: Die Welt ist »da draußen«, und ich sehe und beschreibe sie. Als stiller Beobachter habe ich mit der materiellen Welt da draußen nichts zu tun, sie existiert vor mir und ohne mich, und ich muss einfach »was dort ist«, eins nach dem anderen benennen und wahrnehmen, was »vor sich geht«. Die Materie ist für uns also das Primäre in der Welt. Wir nennen deshalb die Wirklichkeit auch »Realität«, anders ausgedrückt: eine »dingliche Wirklichkeit«. Dass etwas »passiert«, zeigt uns, dass die Welt mit ihren drei Raumdimensionen nicht einfach unverändert da ist, sondern sich in der Zeit verändert. Eine neue Gegenwart stellt sich ein, deren Existenz uns bislang verschlossen war. Wir versuchen deshalb aus der jeweiligen Gegenwart und ihrer Abfolgen heraus zu erkennen, was wohl die Zukunft bringt. Die klassische Physik erkannte hierbei eine strenge Regelmäßigkeit, die in der Formulierung eindeutig determinierter Naturgesetze ihren Ausdruck fand: Die Welt zeigte sich als dynamisches Uhrwerk, das nach strengen Gesetzen abläuft, mit der Konsequenz, dass ich, wenn ich diese Gesetze kenne und alle Bedingungen erfasse, prinzipiell die Zukunft prognostizieren und umgekehrt auch herausbekommen kann, was in der Vergangenheit war. […]

Auf der Grundlage des klassischen Welt- und Menschenbildes war es also für die Naturwissenschaftler und insbesondere die Physiker naheliegend, durch die präzise Erforschung der materiellen Welt und ihrer Naturgesetze die Welt vollständig in den Griff zu bekommen. Zu diesem Zweck war es notwendig, nach der reinen Materie zu suchen. Die Suche nach der reinen Materie bedeutete die Suche nach dem »Unteilbaren«, nach dem »A-tom«. Es war die Suche nach dem Kleinsten, aus dem sich alle Formen zusammensetzten. Bei den kleinsten Bausteinen der chemischen Elemente glaubte man sich am Ziel und nannte sie Atome, sie erschienen unspaltbar, sie waren Kandidaten der reinen Materie. Daraus entstand eine Welt, die letztlich einem Legokasten ähnelte, an den wir immer noch glauben wollen. Doch dann kam der große Wandel ...

... der worin bestand?

Zuerst stellte Rutherford mit seinen Alphastrahlen fest, dass Atome doch eine innere Struktur hatten: ein winzig kleiner Atomkern inmitten einer diffusen Hülle aus Elektronen. Atome waren also aus noch kleineren Bestandteilen aufgebaut, die man Elementarteilchen nannte. Aber dann kam die große Überraschung: Dieses System aus Kern und Hülle konnte nach den Regeln der klassischen Physik nicht stabil sein, es müsste spontan in sich zusammenstürzen. Dieses System konnte nur stabil sein, wenn man eine ganz eigenartige Dynamik zugrunde legte: Es konnte diese Teilchen gar nicht geben, sie wurden nur durch eine stationäre immaterielle Schwingung vorgetäuscht. Daraus folgerte: Atome sind nicht mehr aus Materie aufgebaut. Die Materie verschwand, und nur eine Form blieb übrig. Das alte Physikgebäude kam zum Einsturz, hatte man doch felsenfest darauf vertraut,dass die Welt eine »ontische« Struktur habe, ein »Sein«, bei der es sinnvoll ist zu fragen: Was ist? Was existiert? Sein und Existenz hingen eng mit dem Begriff Materie zusammen. Und nun stellte sich heraus: Materie ist nicht aus Materie aufgebaut, das Fundament der Welt ist nicht materiell. Stattdessen finden wir hier Informationsfelder, Führungsfelder, Erwartungsfelder, die mit Energie und Materie nichts zu tun haben. Das war selbstverständlich eine verwirrende Vorstellung. Wenn Materie nicht aus Materie aufgebaut ist, dann bedeutet das: Der Primat von Materie und Form drehte sich um. […]

Die Grundlage der Welt ist nicht materiell, sondern geistig. Und die Materie ist gewissermaßen die Schlacke des Geistes, sie bildet sich hinterher durch eine Art Gerinnungsprozess. […]

Ein Pendel, nach oben gedreht, hat einen statischen Instabilitätspunkt, der es aus der perfekten Balance nach links oder rechts fallen lassen kann. Die Freiheit des Pendels, nach links oder rechts zu fallen, wird deshalb von den feinsten Einwirkungen und damit in letzter Konsequenz von diesen komischen »lebendigen« Kräften gesteuert, die in der Quantenphysik von Wichtigkeit sind. Wenn ich ein Pendel mit mehreren Instabilitätspunkten -also weiteren beweglichen Gelenken -habe, dann werden die Schwingungsformen des Pendels absolut unberechenbar und seine Bewegungen erscheinen »chaotisch«. Ich mache jetzt einen großen Sprung. Ich behaupte, dass dem Lebendigen solche »chaotischen« Bewegungen zugrunde liegen. Das Lebendige gleicht im Grunde nicht einer fest verschraubten Maschine, sondern rührt von chaotischen Bewegungen her, die auf statischen Instabilitäten beruhen. Das heißt, Lebendigkeit, Ausdruck des Lebens, entspringt einem hoch sensibilisierten Zustand, weil sie auf Instabilität beruht, in der die Hauptkräfte sich wechselseitig kompensieren. Die Bewegung ist jedoch nicht chaotisch im Sinne von »zufällig«, sondern spiegelt vielmehr die mikroskopische Lebendigkeit wider.

Bedeutet das dann nicht auch, dass das Paradigma eines Kampfes und des Wettbewerbs nicht mehr zu halten sind?

Es geht nur mit Kooperation:[2] Die Kooperation von zwei Instabilitäten kann zu einer Bewegung führen, die dynamlisch stabil ist. Lebendigkeit ist dynamisch stabilisierte Instabilität. […]

Definiere ich mich so im Rahmen eines größeren Ganzen, dann ist von mir gefordert, dass ich meine eigenen Fähigkeiten voll entwickeln muss, um dieser Gemeinschaft ein Geschenk zu machen. Dass ich also meine Entwicklungen als einen wesentlichen Baustein sehe, das Ganze, in dem ich eingebunden bin, zu bereichern und in der Bereicherung des Gemeinsamen - das ich ja selber bin - meine Spezialisierung zu würdigen und zu entwickeln.

Was bedeutet das in der Konsequenz für die heutigen Fragen und Probleme?

Wir müssen davon abgehen, dass nicht die Maximierung in Bezug auf ein fixiertes Ziel das Wichtigste ist, sondern die sensible Balance von Unterschiedlichem. Das bedeutet, dass ich in dem Anderen, in seiner Unterschiedlichkeit, einen Vorteil sehe. Wenn ich auf einem Bein stehe, egal auf welchem, falle ich irgendwann um. Wenn beide Beine aber miteinander kooperieren und nicht dasselbe machen, dann kann ich laufen und eine Bewegung zustande bringen, die das einzelne Bein nicht kann. Auf diese Weise ist die Kooperation des einen mit dem anderen, in dem sie genau das Gegenteil machen, genau geeignet, um das zu erreichen, was keines von ihnen von alleine kann. Das ist das Grundprinzip des Lebendigen: Ein geglücktes Zusammenspiel von Unterschiedlichkeit führt zu einer gesteigerten Lebendigkeit. […]

Von der Ideologie des Toten zu den Gesetzen der Lebendigkeit
Im Dialog mit dem Biologen und Philosophen Andreas Weber

[…]

Man kann sagen, dass unsere bisherige, dominierende Wirtschaftsauffassung in Wahrheit unwirtschaftlich ist. Denn sie begreift nicht den wahren Charakter der Zusammenhänge, und somit begreift sie auch nicht, wie Güter angemessen, das heißt fair, maßvoll und effizient verteilt werden. Man kann angesichts der Naturkatastrophe tatsächlich vom größten Marktversagen der Erdgeschichte sprechen. Eine wirtschaftliche Pleite erster Güte.

Der Markt ist ja keine unabhängige Größe, die vom Rest der Gesellschaft abgetrennt ist, sondern beruft sich in seinem Selbstverständnis auf kulturelle Glaubenssätze und tradierte wissenschaftliche Überzeugungen. Wenn der Markt versagt, sind dann auch die dahinterstehenden Paradigmen am Ende?

Ja! Ich glaube, wir haben einfach ein vollkommen falsches Bild vom Leben. Und im Grunde genommen haben wir uns fest vorgenommen, das Leben und die Probleme des Lebens, wozu dann im weitesten Sinne auch die ökonomischen Probleme gehören, mit den Gesetzen der toten Materie zu lösen, also mit den Gesetzen einer Physik, die von Newton entwickelt wurde. Das sind immer noch unsere Standards. Und wenn man das macht, also das Phänomen des Lebendigen nach der Maßgabe einer Ideologie des Toten analysiert, dann erntet man natürlich Leichen. Unser Problem ist, dass wir die Lebenswelt einerseits als Welt der toten Automaten beschreiben und dass wir gleichzeitig die lebende reale Natur über die Klinge springen lassen. Das sind zwei Facetten derselben Sache, zwei Seiten derselben Medaille. Und insofern denke ich, dass ein Besinnen darauf, was Leben in Wirklichkeit ist, überhaupt den Schlüssel dazu darstellt, Leben zu schützen. Solange das nicht der Fall ist, bleiben natürlich alle Appelle wie »Rettet die Natur« letztlich ungehört. Denn die Natur ist ja im alten Denken eigentlich bloß tote Materie. […]

Die globale Zivilgesellschaft als kulturelle Kraft des Wandels
ImDialog mit dem Aktivisten für eine globale Zivielgesellschaft Nicanor Perlas

[…]

Woher kommt der Widerstand, sich den wirklichen Wurzeln eines Problems zu widmen?

[…] Wenn wir die problematischen Identitäten und Überzeugungen erkennen, die eine problembeladene Welt bestimmen, in der wir alle leben, dann wird es unvermeidlich, uns selbst fundamentale Fragen zu stellen: Wie viele von diesen problematischen Identitäten sind meine eigenen? Wenn wir zum Beispiel überzeugte Materialisten sind, dann können wir letztendlich kaum irgendeine Machtelite für ihre Vorstellungen von Macht und Kontrolle kritisieren. Denn am Ende rechtfertigt ja der dem Materialismus zugrunde liegende traditionelle Neodarwinismus die menschliche Existenz als einen ständigen Überlebenskampf, bei dem der Stärkste gewinnt. […]

In der westlichen Welt haben wir diese drei primären Schlagwörter »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit«, die seit der Französischen Revolution für die Demokratie stehen. Lässt sich aus der Sicht der Dreigliederung sagen, dass der Staat prinzipiell gar nicht in der Lage ist, alle drei demokratischen Ebenen abzudecken und es entsprechend andere Kräfte für die Verwirklichung von Demokratie braucht?

Genau, das ist gut auf den Punkt gebracht. Der Staat ist prinzipiell nicht in der Lage, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nur im Rahmen seiner Institutionen bereitzustellen oder zu bewahren. Das Medium der Staatsgewalt ist Macht und das Geschick, verschiedene Interessen so gerecht auszugleichen, dass sie dem Gemeinwohl dienen. Der Staat dient der Gleichheit. Wenn man aber mit einer neuen Idee daherkommt, die der Freiheit dienen wird, dann berührt das die kulturelle Sphäre. Wenn es in die Sphäre des Staates kommt, dann geht es dort nicht darum, ob diese Idee gut oder schlecht ist, sondern wird wahrscheinlich unter dem Gesichtspunkt der Machterhaltung bewertet. Ein Politiker wird sich fragen: »Wer wird mich wählen, wenn ich mir diese Idee auf die Fahnen schreibe?« Also ist der Staat, wenn es um Freiheit geht, nur eingeschränkt nutzbar. Ich erinnere mich, wie ich einmal während der rot-grünen Koalition mit einem hohen Vertreter der deutschen Grünen sprach, der sich darüber beklagte, dass seine Partei »noch nie so wirkungslos« gewesen sei. Von außen mag die Regierungsbeteiligung wie der große Erfolg gewirkt haben, im politischen Innenleben aber fielen die grünen Ideale entsprechend der Mechanismen des politischen Prozesses Kompromissen zum Opfer. Auch hier sieht man, dass der Begriff der Freiheit sich im Wesentlichen auf die Rolle der Kultur beschränkt. Auf dem kulturellen Feld findet die Auseinandersetzung um die Qualität der Ideen statt. Und die Wirtschaft ist eigentlich der Ort, wo die Brüderlichkeit und Solidarität hingehört. Man braucht nur an ein beliebiges Produkt zu denken und sich vorstellen, wie viele Menschen zusammenkommen müssen, um einen Prozess zu orchestrieren, an dessen Ende ein Buch herauskommt. Gleichzeitig kann Ökonomie nicht wirklich der Ort sein, wo Freiheit und Gleichheit erwartet werden kann. Jede Säule der Gesellschaft braucht also ihren spezifischen Raum. Was in der Französischen Revolution -und auch später immer wieder - versucht wurde, war, alle drei Prinzipien der Idee des Staates unterzuordnen. Das musste scheitern. Denn niemand hatte damals erkannt, dass diese drei Qualitäten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären kommen. Deshalb wurde es notwendig, diese drei Werte in Untersystemen der Gesellschaft zu verankern, wo sie sich dann aber voll entwickeln können. Deshalb brauchen wir dringend diese klare Differenzierung der Gesellschaft in die Bereiche Kultur, Ökonomie und Politik. Dabei trägt das Kulturelle das PrinIzip der Freiheit, das Politische das Prinzip der Gleichheit, und dem Wirtschaftlichen wird idealer Weise das Prinzip der Brüderlichkeit zugeordnet. Dann schließlich muss ein gangbarer Weg gefunden werden, wie diese drei in einer harmonischen Interaktion das Ganze voranbringen. Klappt das, dann kann eine Gesellschaft auf der Basis dieser drei Werte funktionieren. Das wäre ein neues politisches Modell einer Einheit in Vielfalt. […]

Die Krise wird uns zur ökologischen Landwirtschaft zwingen
Im Dialog mit der Quantenphysikerin und Aktivistin Vandana Shiva

[…]

Global ist es heute immer öfter so, dass die lokale Landwirtschaft von einer transnationalen Ebene aus gesteuert wird. Und auf dieser globalen Ebene ist man gar nicht in der Lage, den lokalen Reichtum an Pflanzen und ihre Vielfalt zu sehen, und man zerstört sie dementsprechend hemmungslos. Im sozialen Feld verstärkt diese Monokultur des Denkens wirklich eine faschistische Tendenz. Denn entweder führt sie dazu, dass man Zusammenhänge völlig übersieht oder dass man sie aus Angst einfach ausgrenzt. Das herrschende System der Gegenwart basiert auf solchen Monokulturen! Da hängen drei wesentliche Dinge unmittelbar miteinander zusammen: die Monokulturen, die Monopole und die mechanistische Weltanschauung. Man hält die Welt für eine Maschine und baut sie dann so um, dass sie zu der Maschine wird, die man haben will. Aber während dieses Prozesses, der auf einem bestimmten Denken beruht, zerstört man natürliche Vielfalt, schafft Monopole, die wiederum eine Monokultur des Denkens reproduzieren. […]

Sind sich die Menschen in den verantwortlichen Unternehmen bewusst darüber, was sie da anrichten, oder sind sie völlig gefangen im eigenen Mythos, nach dem sie den Menschen helfen und die Welt retten würden?

Diese Unternehmen sind riesig. Und bei Monsanto gibt es alle möglichen Leute. Manche sind Wissenschaftler, die noch nie in ihrem Leben eine Dorfgemeinschaft in den Ländern des Südens erlebt haben und mit Sicherheit noch nie mit einem hungernden Kind konfrontiert waren. Sie glauben, dass wegen dieses toxischen Bt-Gens ein Wunder passieren würde und halten ihre Arbeit wahrscheinlich sogar für sehr wichtig. Würden sie vor Ort sehen, was passiert, wären sie anderer Meinung. Da wächst Saatgut zu merkwürdig verschwurbelten Pflanzen heran, die sich extrem von der Grazie, der Eleganz und Schönheit einer Pflanze unterscheiden, die aus natürlichen Samen entstehen. Und die Technologie, die sie benutzen, ist so unzuverlässig: Die Chance, ein neues Gen in eine Pflanze hereinzubringen, steht eins zu tausend. Also müssen sie ein weiteres Gen für den antibiotischen Widerstand einbauen, sodass die Zellen, die das neue Gen nicht aufnehmen, absterben. In jedem genmanipulierten Nahrungsmittel befinden sich solche antibiotischen Gene, die wir in unserem Körper haben, sobald wir so etwas essen. Wenn man dann im Krankenhaus wegen einer Tuberkulose oder einer schweren Infektion mit Antibiotika behandelt werden soll, besteht akut die Gefahr, dass diese Medikamente nicht mehr wirken. Das ist ein Aspekt der Genmanipulation, über den kaum jemand Bescheid weiß. Die Wissenschaftler aber glauben trotzdem, dass sie eine wundervolle Arbeit machen. Und die Strategieplaner dieser Unternehmen schauen ohnehin nur auf Absatzstatistiken und Profitkurven. […]

Zwar wird jetzt in der EU gerade der Kartoffelanbau gefördert, das geschieht aber, weil man entdeckt hat, dass aus Kartoffelstärke Möbel gebaut werden können. Sobald Nahrungsmittel zur Ware werden, sind sie immer wieder völlig austauschbar -so auch der Raps oder Mais. Heute dient ein Ernteprodukt oft erst mal als Treibstoff für dein Auto, und morgen isst du es dann vielleicht auch mal! Was für eine Tragödie, dass wir uns mittlerweile von den Überbleibseln eines Industriesystems ernähren: Bei den Gütern, die es nicht in sich hineinschlingt, sagt die industrielle Wachstumsgesellschaft quasi: »o.k. Ihr Menschen, das ist jetzt für euch!« […]

Unsere gesellschaftlichen Systeme basieren auf den drei Säulen der Politik, der Kultur und der Wirtschaft. Die Wirtschaft hat sich "zu einer negativen, zerstörerischen Kraft entwickelt. Demokratische Systeme haben sich zunehmend als leblos oder unehrlich erwiesen, weil die Menschen auf die wirklich wichtigen Entscheidungen immer weniger Einfluss haben -da ist die Gentechnik, die niemand will und die trotzdem durchgedrückt wird, ein klassisches Beispiel. Und die »Kultur« ist sehr oft auf schöne Veranstaltungen reduziert, die man sich halt anschaut. Kultur aber ist mehr -Kultur betrifft die Werte, die unser Leben bestimmen. […]

Welche Rolle nehmen da die traditionellen Politiker ein, und wie kann die Zivilgesellschaft politische Entscheidungen in dieser Richtung provozieren?

Ich glaube, die erste Aufgabe, der sich die Politiker stellen müssen, ist eine förmliche Scheidung. Denn sie sind viel zu intim mit der Welt der Unternehmen verheiratet. Es ist ja schon viel über das alte indische Kastensystem geschrieben und geschimpft worden. Trotzdem war es in den alten Zeiten teilweise ein durchaus sinnvolles System, um zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen: zwischen jenen, die etwas produzierten, anderen, die Krieger waren, weiteren, die Händler waren, und schließlich denen, die regierten. Menschen, die über Wissen verfügten, hatten darin keinen Wohlstand. Andere, die militärische Macht innehatten, hatten keinen Zugang zur wirtschaftlichen Macht. So befanden sich die einzelnen Machtfaktoren in einem ständigen Fließgleichgewicht, was garantierte, dass es nie zu einer einseitigen Machtkonzentration kommen konnte. […]

Wer aus einer Zukunftsvision handelt, lebt, statt nur zu agieren
Im Dialog mit Ibrahim Abouleish dem Gründer der Sekem- Initiative

[…]

In Ihren Worten erscheinen immer wieder die drei Begriffe Wirtschaft, Kultur und Recht ...

Das sind die drei Säulen von Sekem. Vom ersten Tag an haben wir dafür drei Institutionen geschaffen: eine Firma, die Mehrwert schaffen sollte, eine NGO zur kulturellen Entwicklung, die sich um die Erziehung und um die Gesundheit und um die Kunst kümmern sollte, und eine Kooperative, die sich um die Rechtslage der Menschen kümmern sollte. Diese drei sollten nicht gegeneinander wirken, sondern zusammen so etwas wie eine Sinfonie spielen. Wir wollten in Sekem endlich den alten Fehler von Entwicklungsinitiativen überwinden, der regelmäßig darin besteht, dass die Wirtschaft mit ihren Impulsen voranschreitet und die Kultur mühsam hinterherhinkt. Hier sollten beide gemeinsam wachsen. So haben wir auf der Basis der Agrarkultur gewirtschaftet, biologisch-dynamisch den Boden bearbeitet und Heilpflanzen, Gemüse, Baumwolle und Gewürze angebaut. In der Landwirtschaft arbeiten mitlerweile ein paar Tausend Menschen daran, die Rohstoffe zu liefern. Was als organische Rohware von den Feldern geliefert wird, wird in Sekem zu Phytopharmaka, zu Lebensmitteln und zu Bekleidung verarbeitet. In unseren Betrieben arbeiten über 2000 Menschen, die ihre Rechte und Pflichten kennenlernen, sie weiterentwickeln und schützen. Und aus dem Mehrwert, der auf dieser Basis erwirtschaftet wird, entstehen die Schulen, die kulturelle Arbeit, die Forschung -alles Elemente, die wiederum für die Entwicklung der Persönlichkeit da sind. Das ist eigentlich genau das Modell der Dreigliederung, was schon vor 100 Jahren Rudolf Steiner in einem ersten Entwurf vorgedacht hat. Aber das Sekem-Modell ist nicht nur anthroposophisch beeinflusst, sondern dabei auch ganz konform mit dem Islam und entspricht darüber hinaus den Anforderungen für Entwicklung in einer globalisierten Welt. […]

Entsteht da ein Netzwerk aus neuen Projekten, abseits und durchaus auch im Widerspruch zu dem, was wir als globalisierte Wirtschaft begreifen?

Globalisierung ist im Wirtschaftlichen eine Tatsache. Und das sollten wir einfach auch so akzeptieren und nutzen. Globalisierung kann in meinen Augen ein Ideal sein: ein Traum, der von den Menschen fordert zusammenzurücken! Da können Brüder und Schwestern zusammenkommen, kommunizieren, ihre Kulturen kennenlernen. In dem Kennenlernen des Anderen aber erkennt der Mensch auch seine eigene Kultur und Religion. Er lernt Wahrheiten, die andere Religionen und Kulturen beinhalten, und fängt an, Respekt und Ehrfurcht vor der Vielfalt der menschlichen Ideen zu haben. So kann die Globalisierung etwas potenziell Positives sein. Selbst was die oft verschmähten »multinationalen Unternehmen« machen, wenn sie global Produkte verkaufen, ist nicht nur schlecht. Das macht auch Sekem. Schlecht ist nur die Qualität mancher Produkte, die Art ihrer Herstellung, die Ausbeutung von Mensch und Natur, der Mangel an Gerechtigkeit. Das führt zu einem absoluten Materialismus, in dem man nur konsumiert und dadurch nicht gesünder, wacher und mehr Mensch wird, sondern nur Käufer bleibt. Das ist nicht Sinn der Globalisierung. Das ist genau das Gegenteil. […]

Es geht darum, Zukünfte täglich sichtbarer zu machen
Im Dialog mit dem globalen Zukunftsaktivisten Jakob v. Uexküll

[…]

Sie haben als Stifter des »Alternativen Nobelpreises« zahlreiche Modelle auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene identifiziert und ausgezeichnet. Geht es da seit 30 Jahren um die Suche nach praktikablen Lösungen?

Mich hat immer interessiert, wie man Veränderungen praktisch durchsetzen kann. Ich wusste aufgrund meiner Reisen, dass es sehr, viele funktionierende Lösungen gab, aber sie einfach nicht ernst genommen wurden. Und dann wurde mir klar, dass Pioniere neuer Lösungen ernst genommen werden, wenn sie einen Nobelpreis bekommen haben. Dann werden sie von den Medien wahrgenommen und können sagen, was sie wollen, es wird publiziert. Daraus entstand die Idee von wenigstens zwei weiteren Nobelpreisen für die Umwelt und für die Dritte Welt. Als das Nobel-Komitee mein Angebot ablehnte, habe ich das mit meinen begrenzten Ressourcen selbst versucht. Und es ist ja zum Glück gelungen. […]

Geseko von Lüpke

Jakob v. Uexküll hat in den letzten Jahren den »Welt-Zukunftsrat« ( World Future Concil ) aufgebaut, in dem Aktivisten und Pioniere der Zivilgesellschaft ethische Maßstäbe im Interesse zukünftiger Generationen formulieren, vertreten und schützen.

Elisabeth Weber

Anmerkungen

[1] Hans Peter Dürr( mit Rudolf zur Lippe und Daniel Dahm): Potsdamer Manifest 2005. We have to learn to think in a new way, Potsdamer Denkschrift, Oekom Verlag 2005

[2] Hans-Peter Dürr: »Quantenwirklichkeit und Alltagswelt«, in: Monika SauerSachtleben & Geseko v. Lüpke: Kooperation mit der Evolution, Diederichs new science, München 1999


zukunft entsteht aus krisenQuelle: Geseko von Lüpke, Zukunft entsteht aus Krise. Antworten von Joseph Stiglitz, Vandana Shiva, Wolfgang Sachs, Joanna Macy, Bernard Lietaer u.a.
© 2009 Riemann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH