Bericht aus dem Weltsozialforum 2005 in Porto Alegre

01.01.2005

Um outro mundo é possivel

Zeitgleich mit dem WorldEconomicForum (WEF) in Davos, ging das 5. Weltsozialforum in Porto Alegre (Rio Grande do Sul, Südbrasilien) zu Ende. Die vielen Zelte, in denen die über 120.000 Teilnehmer sechs Tage lang in über 2000 Seminaren und Gesprächsgruppen vor sich hin schwitzten wurden wieder abgebaut.

In den ersten drei Jahren war das WSF in den gediegenen Räumen der Katholischen Universität von Porto Alegre untergekommen. Vielen Aktivisten der Zivilgesellschaftsbewegung waren diese „bürgerlichen“ Gemäuer, einer hierarchisch-autoritären Sozialordnung entstammend, jedoch nicht geheuer. Von dem letzten Welt-Sozialforum, das in Mumbai (Bombay/Indien) stattfand, hatte man gelernt, wie in wenigen Tagen ein Kongresszentrum mit fliegenden Bauten und Zelten errichtet werden konnte. So entstand auch am Fluss Guaiba, an der grössten Lagune Amerikas ein bewegliches Forum, das nur in den wenigen Stadien für die Grossveranstaltungen und Konzerte und in dem als Organisations- und Pressezentrum verwendeten ehemaligen Gaswerk, der Usina do Gasometro mit dem weithin sichtbaren Wahrzeichen, dem alten Kamin, seine beständigen Fixpunkte hatte. Ein äusseres Bild für die Offenheit und Beweglichkeit des Forums, das sich jenseits aller betonierten Ideologien verstehen will.

Der brasilianische Präsident Lula (Luiz Inacio Lula da Silva) hielt bei der Eröffnung des Forums eine teilweise ausgebuhte Rede. Man greift ihn an, weil er direkt danach nach Davos zum WoldEconomicForum abreisen will. Wäre das aber nicht der Anfang für einen so dringend nötigen Dialog zwischen den Exponenten der verschiedenen sozialen Lager in der Welt?

Alles war dezentral organisiert, lediglich durch elf Themenbereiche gegliedert wie: Autonomes Denken, Aneignung und Sozialisation von Wissen und Technologie; Kampf um Vielfalt, Pluralität und Identität; Kunst und Kreativität, vom Bilden einer Volksbewegung für eine Kultur der Autonomie und des Widerstandes; sozialer Kampf und demokratische Alternativen - gegen eine neoliberale Beherrschung; selbstverwaltete Wirtschaft von und für die Menschen - gegen einen neoliberalen Kapitalismus; Menschenrechte und Menschen-würde für eine demokratische und gerechte Welt; Ethik, Weltvisionen und Spiritualität - Herausforderungen für eine neue Welt. Zu Beginn des Forums wurde ein über 300 Seiten umfassendes Programm mit allen 2.500 Veranstaltungen verteilt. Alle Veranstalter der Seminare waren aufgefordert worden, sich mit ent-sprechenden Themenkreisen zusammenzutun und die Veranstaltungen gemeinsam als Begegnungen im Dialog durchzuführen.

Der weit überwiegende Teil der Veranstaltungen war von brasilianischen Zivilgesellschaftsgruppen und damit in Portugiesisch angeboten. Viele Gruppierungen nahmen aber aus Europa teil, einige aus Asien und einige Wenige auch aus Afrika. Grossen Zulauf hatte die Veranstaltung von „Our World is not for Sale“ gemeinsam mit dem Internationalen Forum für Globalisierung (IFG) und der Initiative Colibri, an dem profilierte Persönlichkeiten wie Walden Bello, Maude Barlow, John Cavanagh und andere teilnahmen.

Auch „Mehr Demokratie“ und der Omnibus für Direkte Demokratie waren durch Michael von der Lohe mit einer Veranstaltung vertreten. Carol Bergin und Johannes Lauterbach von der Initiative Colibri und globenet3 versuchten die Methode, die Konzepte und die Impulse von Nicanor Perlas in das Forum hineinzutragen.

Stärker als an allen vorangehenden Foren waren auch Initiativen aus dem anthroposophischen Bereich vertreten. So hatte die biologisch-dynamische Association Süd-Brasiliens einen Informationsstand auf dem Gelände, ebenfalls die Initiative 3Puls gemeinsam mit der Sektion für Sozialwissenschaften am Goetheanum. An letzterem boten Schüler der Steiner-Schulen Jura-Südfuss während des ganzen Forums intensiv wahrgenommene künstlerische Aktivitäten an, die oftmals über die Sprachbarrieren hinweg zu interessanten Gesprächen und Begegnungen führten.

Lars Pehrson von der Merkur Bank in Dänemark bot ebenso interessante Aspekte eines neuen sozialen Bankwesens an wie Frans de Clerck von der Triodos Bank in Belgien, zugleich Präsident der Inaise (international network of social finance organisations). Diese fanden auch starkes Interesse bei den ortsansässigen etablierten Banken. Inaise, ein Zusammenschluss von sozial- und umweltengagierten Banken, finanziert Initiativen, die weltweit Wertschöpfung insbesondere in neuen sozialen Formen und im Schutz unserer Umwelt sehen: ein neuer Umgang mit Geld als Werkzeug sozialer Veränderung.

Ute Craemer gestaltete mit ihren Mitarbeitern eine faszinierende Präsentation von Monte Azul: Eine andere Favela ist möglich! Ein begeisterndes Model einer Arbeit mit sozialen Randgruppen in den Slums von Sao Paulo. Vor der Veranstaltung zog sie mit einer grossen Gruppe von Jugendlichen über das Gelände des Sozialforums: man musizierte, sang und tanzte und lud jedermann zur Teilnahme an der Veranstaltung im „Museu vivo da Diversidades“ ein.

Dr. Wilhelm Kenzler (Psychiater), Jos Schoenmaker (Sozialpädagoge und Berater) und Marco de Carvalho (Administrator) gaben einen Kurs über Anthroposophie und die soziale Frage, die biologisch dynamische Vereinigung zeigte in einer Demonstration, wie Präparate hergestellt und angewendet werden, die Vereinigung für anthroposophische Medizin gab eine Einführung in eine menschengerechte Medizin. Bei allen diesen Veranstaltungen gab es ein starkes Publikumsinteresse und danach nicht enden wollendes Fragestellen.

3Puls (Dreigliederungsprojekt), eine Schülergruppe der 11. und 12. Klasse der Nord-West-Schweizer Steinerschulen, die „selbstorganisiert“ am Weltsozialforum teilnahm veranstaltete mit Ulrich Rösch von der Sektion für Sozialwissenschaften eine Reihe von Gesprächsgruppen, in denen das globale Dreigliederungsanliegen gemeinsam mit den lokal aktiven Gruppen auf verschiedenen Fachgebieten, den biologisch-dynamisch arbeitenden Landwirte, den Waldorfschulen, den sozialpädagogischen Einrichtungen, den Finanzinstituten usw. als Teil einer schon entstehenden neuen Welt präsentiert wurden. Eine besondere Bereicherung erhielten diese Arbeitsgruppen durch die Zusammenarbeit mit den Künstlern: bildende Gestaltung durch das Sichtbarmachen von Polaritäten im künstlerischen Prozess, aber insbesondere durch das Mitwirken der Eurythmiegruppe „Terra Brasilis“ aus Sao Paulo. Es war ein tiefes Erlebnis, wie diese jungen Menschen die Eurythmie als etwas Selbstverständliches in den sozialen Prozess einbrachten. Spontan entwickelte sich nach Ihrer Aufführung und einem erklärenden Gespräch ein gemeinschaftliches Üben der fast 100 Teilnehmer.

Ulrich Rösch gab eine Einführung in die Gefahren, aber auch die Chancen der Globalisierung. Eine weltweite Zusammenarbeit der Menschen könne auch die Möglichkeit zu einem neuen Erleben der Geschwisterlichkeit unter den Menschen bewirken. Dann könne gerade das Wirtschaftsleben von einer Menschenfeindlichkeit zu einer friedensbringenden, globalen Kraft werden. Dazu brauche es aber eine Befreiung von den herkömmlichen Ideologien wie dem Neo-liberalismus. Menschenerkenntnis und soziale Erkenntnis müssten um die spirituelle Dimension erweitert werden.

Nina Machado (Rechtsanwältin) und Ricardo Behr (Biologe) präsentierten die entstehende Waldorfschule in Porto Alegre. Nachdem der Kindergarten schon viele Jahre arbeitet, wird die Schule im März als erste Waldorfschule im südlichen Staat Rio Grande do Sul, eröffnet werden. In die anschliessende lebhafte Diskussion, insbesondere mit Lehrern der staatlichen Schule gaben sich eine Reihe von Waldorfschülerinnen aus Sao Paulo zu erkennen und gaben eine beeindruckende Identifikation mit ihrer Schule ab. Das überzeugte mehr als manche Ausführung.

Joao Volkmann berichtete von seinem biologisch-dynamischen Reisanbau südlich von Porto Alegre. Seine Kollegen Marco und der achtundsiebzigjährige Bernardo Thomas Sixel ergänzten ihn mit einer Schilderung der schwierigen Situation der biologisch-dynamischen Bauern in Brasilien. Zwar seien die Erträge ausgezeichnet, da aber die Vermarktung bisher nicht funktioniere müssten die Produkte oftmals mit den konventionell angebauten Produkten konkurrieren. Alles würde auf eine assoziative Vermarktung der biodynamischen Produkte hindrängen. Man habe aber dazu noch nicht das soziale Instrumentarium. Gregor Kux rundete die Präsentation damit ab, dass er aufzeigte, dass die lebendige Pflanzenwelt ein Bild abgäbe, für ein harmonisches Zusammenwirken der Menschen. Die neuen sozialen Formen, die Menschen leben, bewirkten wiederum eine Befruchtung des gesamten landwirtschaftlichen Organismus.

Saskia Beck und Fiorina Brotbeck von 3Puls berichteten über ihre Arbeit mit „Free the Children“. Das ist eine weltweit arbeitende Gruppierung von Jugendlichen, die sich in vielen Aktionen gegen die Kinderarbeit einsetzen. Ute Craemer bezog sich in ihrem Beitrag über die Arbeit in den Favelas Monte Azul unmittelbar auf diese beiden sozial engagierten Jugendlichen. Sie zeigte auf, wie auch eine praktische Tätigkeit in den Favelas in Sao Paulo den Jugendlichen hilft, aus ihrem unmittelbaren Sozialerleben ohne intellektuelle Verirrungen in ein brüderliches Erleben und ein neues Sozialverhalten kommen können. Auch die Berichte der Jugendlichen zeigten dann, wie in dieser Einrichtung geschwisterlich und partnerschaftlich zusammengearbeitet wird. Frans de Clerck gab dann noch einen Einblick wie mit INAISE (International Association of Investors in the Social Economy) inzwischen schon eine weltweite Zusammenarbeit von sozialen und umweltengagierten Finanzinstitutionen entstanden ist. Mit Hilfe eines neuen Umgangs mit Geld, sollen soziale Initiativen ermutigt werden, neue Wege im Sozialen zu gehen.

Einen Höhepunkt bildete die Schlussrunde der Veranstaltungen. Eine Schülerin aus Sao Paulo berichtete von ihren Anstrengungen, das Geld für ein Flugticket nach Dornach zusammenzubringen, damit sie an der „Connect-Tagung“ der Jugendsektion im April 2005 am Goetheanum teilnehmen könne. Das sei ihr so wichtig, weil sie sich mit dieser weltweiten Jugendbewegung ganz verbunden fühle. Je zwei Jugendliche der Steiner-Schule Sao Paulo, der Steiner-Schule Solothurn, von Terra Brasilis und der Favela Monte Azul gaben einen kurzen Einblick in ihre Sorgen und Nöte in der heutigen Zeit, aber auch ihre Erwartungen, Wünsche, Träume und Hoffnungen für zukünftige Entwicklungen: es sei so schwer, die Mitmenschen für ein Aufwachen für die soziale Frage und ein Engagement für soziale Veränderung zu bewegen; die Würde des anderen Menschen werde heute so wenig beachtet, wir begegnen den anderen Menschen voller Vorurteile, der Traum einer zukünftigen Welt wird sich nur durch die Kunst verwirklichen; unsere Gegenwart ist geprägt von kulturellen Vorurteilen, der Wunsch für die Zukunft wäre, dass jeder seine eigenen Intentionen ausdrücken kann und dass er selbst sein kann; wir haben heute keine Wurzeln unseres Daseins mehr, alles sei so fertig, es gäbe keine Entwicklung mehr; die Probleme werden gesehen, aber nicht gelöst, wir müssen gemeinschaftlich Lösungen finden; wir dürfen nicht mehr dabei stehen bleiben, darüber zu denken, wie die Welt sein soll, wir müssen jetzt anfangen es zu tun!

Am Rande des Forums ergab sich dann ein Treffen mit allen Mitwirkenden aus den anthroposophischen Initiativen. Die Menschen aus Porto Alegre und aus dem Landesteil Rio Grande do Sul erlebten es als etwas ganz Besonderes, dass sie einmal als eigenständige anthroposophische Initiativen von den sonst so „übermächtigen Freunden“ aus Sao Paulo wahrgenommen und anerkannt wurden.

Und alles wurde von JUMP TV (JugendMedienProjekt, Solothurn/CH) mit Kamera und Mikrofon unter der Leitung von Karenina Spade doku-mentiert. Die wichtigsten Teilnehmer wurden zusätzlich auch interviewt. Die Berichte werden im nordwest-schweizer Regionalfernsehen ausgestrahlt. Eine Dokumentation kann dort angefordert werden. Darüber hinaus gab es täglich aktuelle Berichte von Julian Perrenoud in der regionalen Presse und von Daniel Hollenstein im Internet (youthguide.ch). An verschiedenen Orten wird es auch Berichte von der Teilnahme in Porto Alegre geben.

Das Forum fand seinen Abschluss in einer „caminhada da paz“, einer Friedenswanderung in der sich noch einmal viele Gruppierungen der Zivilgesellschaft präsentierten und in der durchaus sichtbar wurde, dass die neue Welt schon lebt. Man konnte sich zwar wundern, dass es in diesem grossen Zug auch immer wieder rote Fahnen mit Hammer und Sichel gab, den friedlich-festlichen Charakter des Umzuges konnten diese aber nicht stören, prägend dagegen war die freudige Musik und der beschwingende Samba-Rhythmus.

Leonardo Boff, mit einem vatikani-schen Schweigegebot belegter, franziskanischer Befreiungstheologe aus Südbrasilien resümiert: „Niemand kennt die Alternativen. Aber hier in Porto Alegre entsteht allmählich eine Weltzivil-gesellschaft mit dem Bewusstsein, dass wir nicht zufrieden sind mit der Lage der Welt, dass wir uns werden ändern müssen… In Davos geht es um materielle Werte, hier geht es um spirituelle, menschliche ethische Werte. Ideal wäre, wenn beide zusammenkämen, mit dem Ziel einer ganzheitlichen Vision der Menschheit… Aus dem spirituellen Kapital der Religionen müssen Impulse für eine menschlichere Gesellschaft gegeben werden. Wir wollen ja nicht nur eine soziale, sondern auch eine menschliche Veränderung mit ethischen Werten.“ (Interview in der taz vom 30.01.2005)

Hatte die europäische Presse über das Weltsozialforum in Mumbai noch mit „Jahrmarkt der Gutmenschen“ getitelt, so berichtete die FAZ jetzt von Porto Alegre mit „Karneval für eine bessere Welt“ - das ist nicht schlecht getroffen. Das nächste Jahr wird es dezentrale Sozialforen in Amerika (Caracas), Europa (Athen), Afrika und Asien geben. 2007 will man sich dann zu einem Weltsozialforum in Afrika treffen, Südafrika und Marokko wurden als mögliche Orte genannt.

Andreas Trunschk zog in seinem Bericht im Internetportal (www.weltsozialforum.org) das Fazit: „Das Forum lieferte erste Konstruktionspläne und Baustoffe für eine bessere Welt, vor allem jedoch eine tiefe Sehnsucht nach einer Welt, wie wir sie sechs Tage lang in Porto Alegre erahnen durften. Um outro muondo é possivel, eine andere Welt ist möglich. Eine andere Welt ist notwendig. Eine andere Welt ist voller Widersprüche, bunt, aufregend, kompliziert, solidarisch - sie ist liebenswert. Obrigado, danke, companheiros. Obrigado, Porto Alegre.“

Anthroposophische Initiativen in Brasilien

Nach dem Forum konnten die Schüler von 3Puls, Ulrich Rösch und zum Teil auch Frans de Clerck noch einige anthroposophische Initiativen in Brasilien besuchen. Die erste Reise führte noch weiter in den Süden, auf die Facenda von Joao Volkmann und seiner Frau Helene. Dort wird seit 1983 auf einem grossen Gebiet Reis auf bewässertem Grund angebaut. Obwohl seine Farm schon viele Hektare umfasst hat, musste weiteres Land gekauft werden, weil die Bauern in der Nachbarschaft Tabak mit Kunstdünger und Pestiziden angebaut hatten, welche dann durch den Regen und die Bewässerung auf den eigenen Grund geflossen sind.

Der Reis wird in einer eigenen Mühle nach der Ernte auch noch direkt verarbeitet. Auch der Demeter-Reis muss in einem mechanischen Vorgang geschält und gereinigt werden. In drei Sorten wird dieser Reis hauptsächlich auf dem brasilianischen Markt angeboten. Die Erträge sind ausserordentlich befriedigend, der Absatz ist aber das grosse Problem der Bauern in Brasilien. Viele ihrer Produkte fliessen einfach in den konventionellen Markt, weil es noch nicht genügend Bewusstsein für qualitative wertvolle Produkte gibt.

Neben dem Demeter-Anbau arbeitet Joao auch als biologisch-dynamischer Berater und auf seinem Hofe finden regelmässig Ausbildungskurse statt. Die 89 jährige (deutschsprachige) Mutter erzählte uns dann noch abschliessend ein Märchen und von den Balladen Friedrich Schillers. Zum Abschluss gab sie gemeinsam mit unserer Schülerin Fiorina Brotbeck, noch ein Klavierkonzert.

In Sao Paulo besuchten wir dann gemeinsam mit Ute Craemer die Favela Monte Azul. In diesem faszinierenden Projekt praktizierter Humanität, das Ute Craemer vor 30 Jahren begonnen hatte, konnten wir erleben, welche Aus-wirkung Hilfe zur Selbsthilfe haben kann. Ute arbeitet heute haupt-sächlich nur noch für die Alliance for Childhood“ und steht den Mitarbeitern, die das Projekt heute in Selbstverwaltung führen nur noch auf Wunsch ratend zur Seite. Aus der Anleitung zur Selbsthilfe sind im Laufe der Jahre viele Projekte entstanden, die die Lebenssituation in den Favelas (=Slums) grundlegend verbessert haben: fliessendes Wasser, Abwasserkanäle, Kindergärten, Krankenstationen, Freizeitschulen, Spiel- und Sportplätze, Bibliotheken, eine Bäckerei, handwerkliche Betriebe, ein Kulturzentrum. Die bauliche Verbesserung und Sanierung des Wohngebietes gehört wie selbstverständlich zu den Arbeitsprojekten. Die Arbeit, die wegen ihres nachhaltigen Erfolges auch von der Stadtverwaltung unterstützt wird, wurde in der Zwischenzeit auf zwei weitere Favelas im Aussenbezirk Sao Paulos ausgeweitet: Peinha und Horizonte Azul.

Die Schwerpunkte der Arbeit sind immer im Bereich von Bildung und Erziehung, sowie der Gesundheitsarbeit. Heute werden etwa 1000 Jugendliche und Kinder betreut, die in den Einrichtungen auch berufliche Ausbildung erfahren können. Das ganze wird immer von gesunder Ernährung, medizinischer Betreuung und künstlerischen Aktivitäten begleitet. Tanz- und Theatergruppen sind ein fester Bestandteil der Kulturlandschaft in Sao Paulo geworden.

Die Schüler der Waldorfschulen aus Sao Paulo erhalten in den Favelas eine unmittelbare Begegnung mit wirklicher Sozialarbeit. Nicht im Theoretisieren, sondern im unmittelbaren Tun kann hier soziales Engagement erfahren werden. Freiwillige, viele auch aus Europa leisten notwendige Arbeit in der Gemeinschaft. Weitere Initiativen, wie ein Waisenhaus und eine heilpädagogische Einrichtung haben sich im Umfeld von Monte Azul gebildet.

Nach dreieinhalbstündiger Fahrt erreichen wir im Westen von Sao Paulo die Stadt Botucatu. Hier ist in dreissig Jahren eine umfassende anthroposophische Gemeinschaft, Unidos da Demetria, entstanden. Biologisch dynamische Landwirtschaft, eine Käserei, eine Ausbildungsstelle für Landwirtschaft und assoziatives Wirtschaften, die biologisch-dynamische Assoziation Brasiliens, ein Naturkostladen, eine Pizzeria, Aitiara, eine Schule auf dem Felde (mit Waldorfpädagogik), eine Eurythmieschule, Arztpraxen, mehrere Wohnsiedlungen, ein aktiver Zweig der anthroposophischen Gesellschaft und eine Gemeinde der Christengemeinschaft.

Es ist Fasnachtssamstag und wir werden unmittelbar zum Karnevalsumzug gefahren. Alle Einrichtungen der Demetria nehmen in einem Block am Karnevalsumzug teil. Die Gemeindeverwaltung von Botucatu (ca. 150.000 Einwohner) hat das mit grosser Anerkennung aufgenommen und den Block als einen der besten im Umzug ausgezeichnet. Die Eurythmisten tanzen mit ihren Schleiern ebenfalls in eurythmischem Sambaschritt mit. Man kann sofort erkennen, wie das Mitwirken dieser Gruppe stilbildend auf diese ganze Karnevalskultur wirkt. Ein Sambalied, in dessen Text beschrieben wird, wie durch Rudolf Steiner diese Initiativen und insbesondere die Waldorfschule befruchtet wurden, wird im Wechsel mit getrommelten Samba-Rhythmen gesungen. Man spürt, wie die ganze Gemeinschaft mit Begeisterung an diesem sozialen Grossereignis teilnimmt.

Der Präsident der regierenden brasilianischen Arbeiterpartei, Jose Genoino, begrüsst die Gruppe vor laufender Kamera und lässt es sich nicht nehmen, im Gästehaus der Demetria während des Karnevals zu übernachten. Ein freundliches Gespräch, das ich mit ihm beim Frühstück führe, kann wegen der sprachlichen Probleme leider nicht über die höflichen Floskeln hinausgehen. Mit Anerkennung nimmt er aber zur Kenntnis, dass auch eine anthroposophische Gruppe am Sozialforum teilgenommen hat.

Am darauffolgenden Sonntag kann ich noch die verschiedenen Initiativen vor Ort besuchen. Über hundert Menschen kommen mit einem Bus, um in dem Restaurant der Demetria Mittag zu essen - wohlschmeckend aus biologisch-dynamischem Anbau. In der Aitiara, Escola na Campo, einer Waldorfschule auf dem Campus, hat man prinzipielll den Weg eingeschlagen, dass ein Drittel der Schüler ohne Schulgeld die Schule besuchen. Das führt zu ausserordentlich interessanten sozialen Lernprozessen in der Schulgemeinschaft. Die Schule ist - trotz der beschränkten finanziellen Mittel - ausserordentlich schön, modern goetheanistisch gestaltet und anmutig in die Umgebung eingefügt. Eine Wohltat in einem Land, in dem man wenig künstlerisch-gestaltete Bauwerke finden kann. Übrigens finden sich noch viele architektonisch interessante Gebäude auf dem Gelände der Demetria, vom Kuhstall bis zur Kirche der Christengemeinschaft.

Trotz des Karnevals kommt dann am Abend eine grosse Zahl aus dieser Gemeinschaft zu meinem Vortrag über die sozialen Zeitfragen. Ein sehr gemischtes Publikum von ganz jungen Schülerinnen, mitten in der Tätigkeit stehenden und auch älteren Menschen. Trotz der Sprachprobleme entsteht eine dichte Atmosphäre als ich von unseren Aktivitäten auf den Weltsozialforen in Porto Alegre und Mumbai berichte und zu einer Betrachtung über die sozialen Aufgaben der anthroposophischen Bewegung in unserer Zeit überführe. Bis weit in die Nacht hinein wird engagiert diskutiert und einige lassen es sich nicht nehmen anschliessend bei einer Pizza das Gespräch bis nach Mitternacht weiterzuführen.

Als wir nach Sao Paulo zurückkommen bemerken wir, dass wir viel weniger Zeit als erwartet zum Flughafen benötigten. Die Stadt ist verhältnismässig menschenleer. Wer es sich leisten kann ist über die Karnevalstage in die Umgebung geflüchtet. Mir bleibt also etwas Zeit über die Erfahrungen in Brasilien nachzusinnen. Neben der äusseren Wärme erfüllt mich auch eine starke seelische Wärme. Die Begeisterung der Brasilianer hat mich mitgerissen und erwärmt. Besonders das selbstverständliche Durchdringen der Tätigkeiten mit künstlerischen Impulsen hat mich berührt - und das in einer Stadt in der ich fast nur Hässlichkeiten gesehen habe. Hier lebt noch viel ursprüngliche Sozialität, die wir uns in der alten Welt erst mühsam wieder über das Bewusstsein erringen müssen.

In Sao Paulo gab es im Rudolf Steiner Haus der Anthroposophischen Gesellschaft einen Vortrag zum sozialen Auftrag der Anthroposophie in der heutigen Zeit. Lange Gespräche folgten am nächsten Tag. Impulse und weitere Schritte zur Gründung einer sozialwissenschaftlichen Sektionsgruppe wurden engagiert erörtert.