Eine andere Welt erbauen - Das Weltsozialforum 2004 in Mumbai

01.04.2004

Die meisten Abendländer sind trotz ihrer großen Intelligenz
ganz dem Materialismus verfallen...
Morgen- und Abendland müssen heute einen goldenen Mittelweg finden,
der Tatkraft und Spiritualität miteinander verbindet.

Paramahansa Yogananda
(Autobiographie eines Jogis, München 1995)

Das Ereignis war groß! Jetzt müssen wir es erst einmal verdauen. Vielen Europäern hat es auf den Magen geschlagen – noch heute leiden sie an Diarrhö. Über 100.000 Menschen waren in Mumbai (früher Bombay) (1) zusammengekommen (auch für Indien ein außergewöhnliches Großereignis) – das Medienecho sowohl in Europa wie auch in Indien war aber äußerst schwach.

Weder der Premierminister Atal Bihari Vajpayee (von der Bharat Janata, der hindu-nationalen Partei) noch die Führerin der oppositionellen Kongresspartei, Sonja Gandhi haben öffentlich Anteil an dem Ereignis genommen. Vajpayee kam zwar am Eröffnungstag nach Mumbai, er besuchte jedoch eine andere Gegend Mumbais, Dharavi, das größte Elendsviertel Asiens und enthüllte ein Denkmal. Dharavi ist gleichzeitig das größte Kleingewerbezentrum Asiens: 15 Milliarden Rupien werden dort jährlich umgesetzt was etwa 264 Millionen Euro entspricht: Der Müll der Air India wird dort verwertet und entsorgt, Schuhmacher, Schneider, Reparaturwerkstätten versuchen mit ihrer Arbeit zum Überleben beizutragen. „Der Slum ist vermutlich besser organisiert als der Rest von Mumbai“, meinte einer der Umweltschützer.

Der Stellvertreter von Vajpayee, Innenminister Lal Krishna Advani eröffnete derweil eine Messe in der Hauptstadt Delhi, die mehr in der Richtung der indischen Regierung lag als das Sozialforum: die „Auto Expo 2004“. In der Presse und im Fernsehen gab es exotisch anmutende Berichte von demonstrierenden Gruppierungen und trommelnden Stammestänzern. Die meisten Inder haben jedoch von dem Weltsozialforum erst erfahren, als durch die Presse ging, dass ein südafrikanischer Richter eine südafrikanische Delegierte vergewaltigt habe. Winni Mandela kam zur Verteidigung des Richters nach Mumbai und die Anklage wurde dann nach dem Weltsozialforum zurückgezogen.

Die indischen Gruppen gaben zwar ein sehr bereicherndes und farbenfrohes Bild für das Forum ab und es wurden mehr als je zuvor von der globalisierungskritischen Bewegung die Opfer der Folgen und des Terrorismus wahrgenommen, die indischen Gruppierungen selbst hatten jedoch fast ausschließlich ihre lokalen Probleme im Visier und zeigten sich als radikale Globalisierungsgegner. Offensichtlich hat es diesen Gruppierungen sehr gut getan, einmal von anderen wahrgenommen zu werden. Das offizielle Indien wollte aber die menschlichen Katastrophen in Gujarat, Kashmir, Punjab nicht wahrnehmen – das wäre peinlich und könnte einen schlechten Eindruck in der Welt hinterlassen und die erwünschten Investoren abschrecken.

Vieles wiederum blieb den westlichen Besuchern völlig unverständlich. So traten unter den bunten Gruppen Stämme der Urbevölkerung auf (Adivasis), Dalits (kastenlose Ausgegrenzte), Homosexuelle, Transsexuelle und andere Randgruppen wie die Hijras (Eunuchen). Damit fanden aber hauptsächlich Themen der sozialen Ausgrenzung und der Menschenwürde Eingang in das Weltsozialforum.

Wie kann man als einigermaßen kultivierter Mensch verstehen, dass noch im 21. Jahrhundert Menschen einfach rechtlos dadurch sind, dass sie den falschen Eltern geboren wurden und damit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe angehören. Gandhi hatte diese Menschen die Harijans (Gotteskinder) genannt. Aber im Kampf um deren Gleichberechtigung ist er genauso gescheitert wie in seinem Kampf um die Anerkennung der Frauen. Noch heute müssen sich diese „Unberührbaren“ um die Reinigung der Toiletten, den Abtransport der Fäkalien und des Mülls kümmern. Besonders im dörflichen Gebiet ist es ihnen nicht erlaubt, öffentliche Brunnen zu benutzen oder den Weg vor dem Tempel zu betreten. Sie wohnen in „Colonies“, in armseligen Siedlungen jenseits der Strasse und fristen dort ihr elendes und menschenunwürdiges Leben. So war es eine Minimalgeste eine von Dalits produzierte Weste zu kaufen, mit der Aufschrift: „Dalits (Die Unberührbaren) machen eine andere Welt möglich“.

Indien bleibt den meisten Besuchern noch immer ganz unverständlich. Mumbai beherbergt mehr Superreiche (Dollarmillionäre) als Manhattan – zugleich leben mindestens sechs Millionen Menschen in Slums. In den guten Wohnvierteln im Süden Mumbais stehen Apartmenthäuser, in denen die Mieten doppelt so hoch sind wie in einer westlichen Metropole. In den Strassen vor den Häusern leben obdachlose, bettelnde Krüppel und hoffen auf ein paar Rupien der an ihnen achtlos Vorbeiziehenden. Aber selbst diese Ärmsten müssen an den „Paten“ ihres Viertels noch einen Obolus abgeben, damit sie überhaupt eine Berechtigung erhalten an den kaputten, dreckigen Straßenrändern zu leben und zu betteln. In den elenden Siedlungen gegenüber den Luxushotels, deren Zimmerpreise weit über denen vergleichbarer Hotels in Berlin oder Paris liegen, gibt es weder Elektrizität, noch Trinkwasser, noch eine medizinische Basisversorgung. Mehr als 290 Millionen Inder leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, können ihren täglichen Hunger nicht stillen, nicht einmal zwei von drei Kindern besuchen eine Schule. Ist es da verwunderlich, dass sich eine Regierung über ein jährlich siebenprozentiges Wachstum freut und hofft, im Zuge einer bedenkenlosen Globalisierung auch bald zu den „global Players“ gehören zu dürfen?

Ein Hauptfokus der Kritik auf dem Sozialforum war der amerikanische Imperialismus, dessen negative Auswirkung an vielen Erscheinungen gezeigt wurde, insbesondere auch am Irak-Krieg und der Politik George W. Bushs. Daneben wurden aber auch in sehr differenzierter Weise die Auswirkungen des zur Weltherrschaft strebenden Neo-Liberalismus aufgezeigt. Neben der weltweit anerkannten Aktivistin und mit dem Bookers-Preis ausgezeichneten Autorin Arundhati Roy traten auch die Nobelpreisträger Schirin Ebadi aus dem Iran und der amerikanische Ökonom und früherer Vizepräsident der Weltbank, Joseph Stiglitz auf.

Trotz der zum Teil massiven Ablehnung der Globalisierung war das einigen indischen Aktivisten nicht radikal genug. Sie riefen deshalb zu einer Gegenveranstaltung, der „Mumbai Resistance 2004“ auf, die gleich gegenüber dem grossen Veranstaltungsgelände des Weltsozialforum stattfand. Dort versammelten sich auch Vertreter einer bewaffneten Rebellion wie nepalesische Maoisten, indische Naxaliten oder kaschmirische Separatisten. Das alles machte jedoch einen eher verschlafenen und zurückgebliebenen Eindruck und es blieb während dem Forum alles ruhig und friedlich.

Nachdem das Weltsozialforum (Weltsozialforum) drei Jahre hintereinander in Porto Alegre (Brasilien) stattgefunden hatte, ging es jetzt erstmals in einen anderen Kontinent. Das Weltsozialforum entwickelte sich aus der wachsenden internationalen Bewegung, die kritisch gegenüber der kapitalistisch und neoliberal geprägten, einseitigen Globalisierung steht, deren Folgen in den meisten Ländern heute spürbar geworden sind. Über Jahrzehnte haben die internationalen Einrichtungen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfond und die sie beeinflussenden Regierungen ohne wirklichen demokratischen Prozess Entscheidungen getroffen und durchgesetzt, die das Leben von unzähligen Menschen beeinflusst haben. Menschen in den sich entwickelnden Ländern erleiden manche verheerenden Auswirkungen ebenso, wie benachteiligte und ausgegrenzte Bereiche in den Industrienationen von den Auswirkungen dieser einseitigen Globalisierung betroffen sind.

Das Weltsozialforum versucht einen offenen Raum zu geben, wo Alternativen diskutiert, Erfahrungen ausgetauscht und Allianzen zwischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und sozialen Bewegungen geschlossen werden können. Das erste Weltsozialforum fand im Januar 2001 in Porto Alegre, Brasilien statt, nicht zufällig gleichzeitig mir dem Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos. Jedes Jahr, seit 1971, trifft sich ein exklusiver Club der Leiter der weltgrößten, einflussreichsten transnationalen Konzerne mit Wirtschaftsprofessoren und den politischen Weltführern im Kurort Davos, um die weltweite globale Entwicklung zu verhandeln. So verstand sich das Weltsozialforum als ein alternatives Gegengewicht zu der gewaltigen Machtagglomeration des WEF.

Beim ersten Weltsozialforum in Porto Alegre Waren es noch etwa 20.000 Teilnehmer, die über 500 nationale und internationale Organisationen aus 100 Ländern vertraten. Es wurde ein so grosser Erfolg und erzeugte so viel Begeisterung, dass man beschloss dieses Forum jährlich abzuhalten. Es wurden jedes Jahr mehr Teilnehmer und in Mumbai nahmen dann über 100.000 Vertreter der internationalen Zivilgesellschaft teil, fast 20.000 registrierte Delegierte als Vertreter von etwa 2.700 Organisationen (NGOs) aus fast 150 Ländern. Mehr als zwei Drittel der Teilnehmer kamen aus Indien.

Der Entschluss, das Forum ursprünglich in Brasilien zu halten, war durchaus bedeutsam. Während einerseits Brasilien eines der Länder ist, das von der neoliberalen Politik besonders betroffen ist, widerstehen viele Bereiche dieser Gesellschaft diesen Einflussnahmen im ländlichen Bereich wie in städtischen Gegenden, in Barackensiedlungen, Fabriken, politischen Parteien, Kirchen, Schulen usw. Die Vielfalt und Vitalität der brasilianischen Basisorganisationen stellten eine Quelle der Inspiration für die Entwicklung der Weltsozialforums dar. Porto Alegre selbst liegt in der südlichsten Provinz Brasiliens und die pro-linke Regierung des Bürgermeisters der Stadt und der Provinz unterstützten das Forum auf viele Weisen. Das Weltsozialforum wurde von einem brasilianischen Komitee gegründet und organisiert.

Das Weltsozialforum hat kein gemeinsames politisches Manifest, auf das sich alle jenen, die teilnehmen, einigen müssen. Die Basis des Weltsozialforum ist Antiimperialismus, Anti-Neoliberalismus und die Überzeugung, dass “eine andere Welt möglich ist“. Die Grundidee ist die Schaffung eines Ortes, wo jedermann unter Achtung der anderen zusammenkommen kann. Der Weltsozialforum Prozess schließt verschiedene Trends ein. Es gibt jene, die zum Beispiel sagen, dass eine Reform des WTOs und der Bretton Woods Institutionen (Weltbank und IMFs) möglich sei, es gibt aber auch jene, die glauben, dass, es unmöglich sei diese zu reformieren und dass eine radikale Systemänderung notwendig sei. Es gibt solche, die den Dialog pflegen wollen und Andere, die an den Weg der Konfrontation glauben. In Mumbai gab es eine große Debatte, ob das Weltsozialforum einfach ein offener Raum (Open Space) bleiben solle, oder ob es nicht durch eine politische Willensbekundung mehr Stossrichtung bekommen solle. Arundhati Roy plädierte in ihrer Eröffnungsansprache dafür, zwei multinationale Nutznießer des Irak-Krieges zu boykottieren. „Feiertagsproteste stoppen keine Kriege. Es ist eine Frage unsere kollektive Weisheit und Erfahrung aus vergangenen Kämpfen für ein einzelnes Ziel einzubringen. Es ist eine Frage des Wunsches zu siegen.“

Weltsozialforum in Indien

Das internationale Komitee des Weltsozialforum und die Brasilianische Gründungsgruppe, hatten entschieden, dass von diesem Jahr an die globale Weltsozialforum Jahrestagung von regionalen, kontinentalen und/oder thematischen Foren über den ganzen Globus veranstaltet wird. Während das Weltsozialforum Ereignis im Jahr 2003 noch in Porto Alegre abgehalten worden war, wurde entschieden, dass das Treffen 2004 in Indien sein sollte. Die nächste Veranstaltung in 2005 solle dann wieder in Porto Alegre stattfinden, 2006 vielleicht in Afrika.

Das Weltsozialforum in Indien war eine große Gelegenheit und Herausforderung für die lokalen und regionalen NGOs und die anderen Organisationen im Lande, die gegen neoliberale Wirtschaftspolitik und kapitalistisch ausgerichtete Globalisierung kämpfen. Aber auch Menschenrechtsgruppen und lokale Interessensgruppen mischten sich unter die bunten Teilnehmer.

Das Weltsozialforum wird als ein offener Beratungsort (Open Space) von allen Gruppierungen und Bewegungen gedacht, die sich gegen Neoliberalismus und Imperialismus richten. In Indien haben vielen Gruppen die Notwendigkeit gesehen die gegenwärtige Struktur des Weltsozialforum Prozesses zu verändern und gleichzeitig die Essenz zu bewahren. So wurde vorgeschlagen, dass das indische Treffen, auf Erfahrungen im Land bezüglich der Organisation von großen Kampagnen – wie zum Beispiel Gandhis Salzmarsch - zurückgreift, die sich nicht auf die Planung eines großen Ereignisses beschränken solle. Das Forum selbst sollte als der Höhepunkt eines Prozesses betrachtet werden. So sind der Januarveranstaltung eine ganze Reihe von regionalen Treffen in Indien voraus gegangen. Der darin erfahrene Prozess wurde genauso wichtig gesehen, wie die Schlussveranstaltung selbst. Diese Prozesse sollten offen und sehr flexibel sein und viele andere einschließend. Der Zusammenschluss sollte auf den Individuellen Fähigkeiten, und der Kraft der lokalen Gruppen und Bewegungen aufbauen. Von dort sollten auch die Beiträge, die Lösungsvorschläge, die Alternativen zu neoliberaler Wirtschaftspolitik kommen. Globalisierung stand so vor einem weltweiten öffentlichen Tribunal.

Während das Weltsozialforum in Porto Alegre stark in der Öffentlichkeit gestanden hatte, sogar Staatspräsident Lula richtete eine Ansprache an die Teilnehmer, verschluckte Mumbai, die größte Metropole Indiens das Ereignis wie ein Elefant eine Mango, wie der deutsche Journalist Jochen Bechsteiner in der FAZ vermerkte. NESCO Grounds heißt das große Gelände einer seit zehn Jahren stillgelegten Turbinenfabrik im Norden Mumbais. An den letzten Tagen vor dem Weltsozialforum wurden noch eine ganze Anzahl von Hütten beseitigt und dafür mit Bambusstangen, Jute, Baumwolle, Sisalseilen und vielen Arbeitskräften ein Konferenzzentrum erschaffen, wie es sicherlich die Welt noch nie gesehen hat. Die Tagungszelte, der obere Teil der Wände wegen der Luftzirkulation offen, wurden noch mit Plastikstühlen, elektrischer Beleuchtung, Mikrofonanlagen und den in Indien obligatorischen Ventilatoren an den Decken ausgestattet. 140 solcher geschaffenen Räume boten dann Platz für über 1.200 Veranstaltungen.

Das alte Verwaltungsgebäude der Fabrik wurde zu einem Pressezentrum mit 130 ans Internet angeschlossenen Computern verwandelt, in den Hallen und entlang der Zugangswege gab es Stände, an denen Informationen und Produkte der zahllosen Basisgruppen wie auf einem riesigen Bazar angeboten wurden. Nicht zu vergessen die 160 Essensbuden und Garküchen, denen man die Verpflegung der zigtausend Delegierten anvertraut hatte. Multinationale Nahrungsmittelunternehmen, Pepsi und Coca Cola wollte man unbedingt draußen halten. Dafür gab es vielfältige, traditionelle indische Mahlzeiten zu einem Preis von 30 Rupien (etwa 50 Cent) und dazu köstliche frisch gepresste Obstsäfte aus Mangos, Melonen, Limonen, Orangen oder Papayas für 10 bis 20 Rupien. Für alle Nichtinder ein unglaublicher Vorgang, wie aus einem totalen Chaos innerhalb von drei Tagen ein relativ gut funktionierendes Konferenzzentrum entstanden ist.

Das Programmheft, in dem alle 1.200 Veranstaltungen gleichberechtigt nebeneinander angekündigt waren, kam dann tatsächlich auch im Laufe des ersten Veranstaltungstages in Umlauf, so dass nur die ersten Veranstaltungen unter der Verspätung zu leiden hatten. Auch in der Finanzierung bedeutete das Weltsozialforum in Indien eine Neuerung. Ob gewollt oder nicht wurde nicht deutlich, aber die Finanzierung aus mit den globalen Gewinnern verbundenen Einrichtungen – wie der Ford Foundation, die einen wesentlichen finanziellen Beitrag in Porto Alegre geleistet hatten, gab es in Mumbai nicht. So wurden die Beiträge der Teilnehmer zwischen 100 Rupien (etwa 2 €uro) für ärmere Länder und 100 US$ (etwa 80 €uro) für Teilnehmer aus reicheren Ländern gestaffelt. Neben den Spenden und Beiträgen der Teilnehmer gab es finanzielle Unterstützungen der Heinrich-Böll-Stiftung, kirchlicher Organisationen, allesamt aus dem Westen. Dabei kamen die Inder mit einem erheblich niedrigeren Budget aus als die Brasilianer und das Defizit fiel mit ca. 300.000 US$ erheblich niedriger aus.

Die weltweite Bewegung für Dreigliederung und die anthroposophischen Initiativen in Indien

Das Problem der Globalisierung ist mit dem zu Ende gehenden zwanzigsten Jahrhundert über die ganze Erde gezogen. Kaum ein anderer Begriff wurde so viel gebraucht aber auch missbraucht als dieser. Gerade der Fortschritt hat die Menschheit in eine globale Wirtschaft hineingeführt. Mit der an sich positiven Entwicklung wurden jedoch wirtschaftliche und politische Interessen verbunden. Nicht die weltumspannende Zusammenarbeit der Menschen ist das Problem, sondern dass die Entwicklung zu einer weltumspannenden Zusammenarbeit noch nicht mit einem adäquaten Bewusstsein verstanden wurde.

Eigentlich hätte die Entwicklung einer globalen Wirtschaft zu einer Weltmarktorientierten Wertschöpfungsgemeinschaft führen können. Tatsächlich hat jedoch ein rücksichtsloser Konkurrenzkampf und ein oftmals brutales Machtstreben der Reichen und Mächtigen eine globale Gefährdung hervorgerufen.

Seit vielen Jahren gibt es weltweit Menschen, die sich mit der sozialen Frage jenseits aller bestehenden Ideologien beschäftigen. Ihr Anliegen ist es die Phänomene der Welt vorurteilsfrei zu betrachten. Dabei wurde deutlich, dass diese Phänomene in sich schon Lösungen für die entstandenen Probleme enthalten. Ein neues Menschenbild wurde allem zugrundegelegt: der Mensch nicht nur als ein materielles sondern auch als ein seelisch-geistiges Wesen.

Daraus entstand schon 1919 eine neue Gesellschaftsidee, durch Rudolf Steiner als „Dreigliederung des sozialen Organismus“ dargestellt. Aus diesem neuen Menschenbild entstanden aber auch neue Modelle für Schulen, heilpädagogische Einrichtungen, alternative Medizin und Heilmittelerzeugung, Landwirtschaft und eine Erneuerung aller Künste. Die ersten Jahre entwickelte sich diese Bewegung vor allem in Mitteleuropa, mehr und mehr aber im Laufe des letzten Jahrhunderts in der ganzen Welt.

Durch die zivilgesellschaftliche Bewegung fanden immer mehr Menschen ein Interesse an diesen neuen praxiserprobten Ideen. Auf den Weltsozialforen in Porto Alegre wurden schon viele Menschen auf diese Konzepte praktizierter Humanität aufmerksam. So war es nur folgerichtig, dass zwei Vertretern dieser Bewegung Dr. Ibrahim Abouleish aus Ägypten und Nicanor Perlas aus den Philippinen im letzten Jahr (Verleihung am 08.12.2003 im schwedischen Parlament) der alternative Nobelpreis (Right Livelihood Award) zuerkannt wurde.

In Indien gibt es schon eine ganze Zahl von Projekten, die erfolgreich aus diesen Erkenntnisgrundlagen heraus arbeiten. In der Pädagogik die Sloka School in Hyderabad, die Thrida School in Mumbai, in der Heilpädagogik das Dr. Rudolf Steiner Institute fort the mentally retarded in Darwad, Sadhana Village in Pune, Friends of Camphill India – Antaranga in Bangalore, in der Landwirtschaft das Maikaal-Projekt in Maheshwar mit über 1.200 Bauern, Kurinji Farms in Betalgundu und Kodaikanal und die Makaibari Tea Estates in Darjeeling. Ein grosser Teil dieser Projekte wurden zusammen mit den konzeptuellen Hintergründen auf dem WeltSozialForum in Mumbai vorgestellt.

So entstand für das Weltsozialforum in Indien ein neuer Impuls. Das weltweite Forschungspotential und das globale Potential der Wirksamkeit für die Dreigliederungsidee zusammenzufügen mit den praktischen Initiativen, die schon in Indien arbeiten. Aban Bana und ihre Schwester Dilnawaz, die schon seit vielen Jahren die anthroposophischen Initiativen in Indien koordinieren, schlossen sich diesem Impuls an und gaben ihm somit eine örtliche Basis in Mumbai. So konnte dieses Konzept realisiert werden: die lokalen praktischen Initiativen in Indien gemeinsam mit der weltweiten Dreigliederungsbewegung auftreten zu lassen: ihre Ideen und Visionen, aber auch ihre Schwierigkeiten und Probleme und ihre Errungenschaften mit den andern zu teilen.

Christoph Strawe, Ulrich Morgenthaler und Ulrich Rösch sprachen über grundsätzliche Fragen der Globalisierung. Aban Bana, Mehda Tengshe, Nirmala Diaz und Rajeev Baruah berichteten von der praktischen Anwendung anthroposophischer Erkenntnisse und deren soziale Auswirkungen in Waldorfschulen, heilpädagogischen Gemeinschaften und in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft. Dilnawaz Bana zeigte Eurythmie zu Sanskrit-Rezitationen, mit ihren Kolleginnen wurde das Evoe eurythmisiert – sicherlich eine Neuerung auf dem Weltsozialforum. Die Seminaristen der Thrida-Schule zeigten ein selbst inszeniertes Puppenspiel und die Tanzlehrerin der Schule tanzte Bharat Natyam, klassischen indischen Tanz.

Damit das Ganze auch eine nachhaltige Wirkung haben konnte, wurden wesentliche Beiträge zu dem Thema in einem Buch zusammengefasst, das im earthcare books – Verlag in Kolkata erschienen ist und auf dem Weltsozialforum vorgestellt wurde: „Vision and Action for another World“. Ein Stand der anthroposophischen Initiativen in Indien gemeinsam mit der Sektion für Sozialwissenschaften, Goetheanum hatte grossen Zuspruch. Viele Menschen fanden hier eine Anlaufstelle um die drängenden Fragen zu besprechen. Die Bücher und auch T-Shirts aus biologisch-dynamisch angebauter Baumwolle mit einer Zeichnung Rudolf Steiners bedruckt, fanden starken Absatz. Vandana Shiva, die Trägerin des alternativen Nobelpreises und bekannte indische Zivilgesellschaftsaktivistin meinte als Sie ein gewidmetes Buch überreicht erhielt: „Never say bd, it sounds so near to bt! And that is dangerous!“ Sagt niemals bd (für biologisch-dynamisch). Das klingt so ähnlich wie bt (für Bio-Technologie). Das eine steht für eine nachhaltige Landwirtschaft, das andere birgt eine große Gefahr für die Menschheit.

(1) Im Zuge der Hinduisierung der Gesellschaft wurde von hinduistischen Traditionalisten der von den Engländern verballhornte Name der Mumba Devi, der Göttin des Ortes, der unter Einbeziehung der portugiesischen Kolonialisten zur Bom Bay (Schöne Bucht) geworden war, wieder rückgängig gemacht, genauso wie Madras zu Chennai wurde, Kalkutta zu Kolkata und Trivandrum zu Thiruvananthapuram)


Quelle: Vorwort des Herausgebers zu den Flensburger Heften Nr. 84