Gesundheitsreform und Therapiefreiheit

01.04.2004

Die in Januar 2004 in Kraft getretene Gesundheitsreform hat sich bisher so negativ auf die Therapiefreiheit ausgewirkt, daß der Verein gesundheit aktiv nun eine Verfassungsbeschwerde erwägt. Die Aussichten auf Erfolg sehen gar nicht mal so schlecht aus. Trotzdem müssen sich die anthroposophischen Verbände die Frage gefallen lassen, ob nicht auch bezüglich der Gesundheitspolitik selber Vorbeugung der nachträglichen Reparatur vorzuziehen wäre.

Von falschen Instrumenten und realen Interessen

Von der Gesundheitsreform besonders hart betroffen sind die Medikamentenhersteller der besonderen Therapierichtungen. Nichtverschreibungspflichtige Medikamente - und dazu gehören die meisten homöopathischen und anthroposophischen Arzneimittel - werden, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht mehr zurückerstattet. Dies ist insofern besonders vertrackt, weil dadurch gerade die Medikamente vom Markt verdrängt werden, die keine Nebenwirkungen aufweisen. Zu befürchten ist auf längere Sicht, daß die Ärzte zunehmend verschreibungspflichtige, und damit bedenkliche Medikamente einsetzen, nur deswegen, weil sie rückerstattungsfähig sind. Das Pikante dabei: Verschreibungspflichtige Medikamente sind meist teurer, so daß es letzten Endes für die Krankenkassen teurer werden würde.

So weit ist es aber noch nicht. Die ersten Zahlen des Bundesverbands Pharmazeutischer Industrie (BDI) zeigen vielmehr, daß es nicht teurer wird und die Rechnung des Gesundheitsministeriums zunächst aufgeht - auch wenn es dem Verband selber gar nicht gefällt. Erfreut ist dagegen der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA), der die ganzen Pharmakonzerne vertritt, und die Herausnahme der nichtverschreibungspflichtigen Medikamente aus der Rückerstattung ausdrücklich begrüßt hatte.

Es gibt nämlich keine einheitliche Pharmalobby, sondern es tobt vielmehr innerhalb der Pharmabranche ein regelrechter Wirtschaftskrieg zwischen einerseits den Pharmakonzernen (VFA) und andererseits dem Mittelstand, der vom BDI vertreten wird. Und die Pharmakonzerne erzeugen kaum nichtverschreibungspflichtige Medikamente. Die Umsatzrückgänge von zum Teil über 70% müssen daher nicht die Pharmakonzerne, sondern allein der Mittelstand einstecken.

Die Pharmakonzerne hatten ganz andere Sorgen. Wären ihre Medikamente - wie ursprünglich geplant - nach ihrer Kosten-Nutzen-Relation bewertet worden, hätte es für sie sehr schlecht ausgesehen. Gerade die starken Nebenwirkungen ihrer verschreibungspflichtigen Medikamente fressen da die Vorteile der schnellen Wirkung auf. Gegen eine solche Bewertung habe sie sich daher vehement bewehrt - und zuletzt erfolgreich.

Feder mußten die Pharmakonzerne an anderer Seite lassen. Durch die Gesundheitsreform werden die billigeren Nachahmermedikamente des Mittelstands, die sogenannten Generika, den Originalmedikamenten der Pharmakonzerne gleichgesetzt. Walter Köbele, der Deutschland-Chef von Pfizer, dem weltgrößten Pharmakonzern, behauptet daher, daß Forschung sich in Deutschland nicht mehr lohnt - bei einer Gewinnmarge von 30%. Noch interessanter ist aber, daß Köbele bei den Generika noch Einsparpotential sieht - sie seien teurer als nötig. Es scheint zunächst nur ein guter Spartipp zu sein. Näher gesehen entpuppt sich das aber als Ellenbogenmentalität - die Rechnung würde nämlich nicht seine Firma, sondern der Mittelstand bezahlen.

Und gerade darin liegt wahrscheinlich die Ursache, warum es zur Herausnahme der nichtverschreibungspflichtigen Medikamente aus der Erstattung gekommen ist. Es gibt nämlich keine sachliche Begründung dafür. Wenn es, wie von der Politik behauptet, darum gegangen wäre, einige leichte Erkrankungen nicht mehr zu erstatten, dann hätte man nach Indikationen gehen müssen und nicht nach dem Kriterium, ob verschreibungspflichtig oder nicht. Dies zeigt sich daran, daß man es jetzt dazu gezwungen ist, eine lange Ausnahmeliste zu machen: nichtverschreibungspflichtig und doch erstattungsfähig, weil zur Heilung schwerwiegender Erkrankungen einsetzbar. Das falsche Instrument hat man wahrscheinlich deswegen genommen, weil es ursprünglich von den Pharmakonzernen als guter Spartipp empfohlen worden ist. Die Politik könnte ihre Dankbarkeit dafür durch den Verzicht auf die Kosten-Nutzen-Rechnung erwiesen haben.

Die soziale Dreigliederung auf dem Kopf

Der Deal wäre fast fatal für die phytopharmazeutischen, homöopathischen und anthroposophischen Arzneimittelhersteller ausgegangen, weil die Entscheidung darüber, welche Medikamente in die Ausnahmeliste kommen sollen, weder von der Politik noch von der Wirtschaft, sondern vom neu gegründeten obersten Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, dem sogenannten gemeinsamen Bundesauschuss (Gemba), getroffen wird. Dort sind die besonderen Therapierichtungen noch schwächer vertreten als in der Pharmabranche mit dem BDI oder in der Politik mit den Grünen und Liberalen.

Nun ist es aber den Befürwortern der besonderen Therapierichtungen mit ihrer Kampagne "Naturarznei hilft" gelungen, mehr als 700.000 Unterschriften gegen die Herausnahme der nichtverschreibungspflichtigen Medikamente aus der Rückerstattung zu sammeln. Es kam zwar zu spät, um die entsprechende Gesetzänderung stoppen zu können. Angesichts dieser Mobilisation macht aber nun das Gesundheitsministerium Druck auf den Gemba, damit möglichst viele Naturheilmittel auf die Ausnahmeliste kommen und trotzdem zurückerstattet werden. Die im Gesetz festgelegten Kriterien für die Aufnahme in die Ausnahmeliste lassen sich aber höchstens auf Johanniskraut gegen Depressionen und Mistelpräparate zur ergänzenden Krebsbehandlung anwenden. Damit wäre schon, wie im Gesetz verlangt, der therapeutischen Vielfalt Rechnung getragen worden, weil beide Mittel nur bei komplementärmedizinischen Richtungen und nicht bei der Schulmedizin als Therapiestandard gelten.

Das Vertrackte ist, daß man sich nun im Interesse der besonderen Therapierichtungen wünschen muß, daß die Selbstverwaltung schon wieder vor der Politik kuscht - und in deren Auftrag durch die Hintertüren einen halb-unsinnigen Gesetzartikel aufhebt, den sie doch selber beschlossen hat. Wenn wir als Befürworter einer sozialen Dreigliederung unseren Anspruch einer Selbstverwaltung von Wirtschaftsleben, Rechtsleben und Geistesleben ernst nehmen, müssen wir in Zukunft versuchen, solche Situationen zu vermeiden, wo wir auch noch helfen, die zaghaften Versuche einer Selbstverwaltung des Gesundheitswesens zu torpedieren.

Wir müssen also nicht nur versuchen, rechtzeitig bei der Politik präsent zu sein, statt erst dann zu reagieren, wenn die Gesundheitspolitik für unsere Therapierichtung schief läuft. Das wäre, gemessen an der heutigen Lage, zwar schon allein ein Riesenfortschritt. Wir müssen aber darüber hinaus versuchen, aktiv an der Selbstverwaltung teilzunehmen, um von dort aus für eine Erweiterung der Schulmedizin zu sorgen.

Sylvain Coiplet