Rede zum Tag der Deutschen Einheit

01.10.2003

Der Tag der deutschen Einheit sollte am besten abgeschafft werden. Diese Einheit ist ein Fehler der Geschichte, ein Anachronismus. Eine deutsche Einheit, die staatliche mit kulturellen und wirtschaftlichen Elementen so durcheinanderwirft, darf es heute nicht mehr geben.

Die kulturelle Einheit soll es angeblich schon vorher gegeben haben. Es reden doch alle dieselbe deutsche Sprache, hieß es. Nur sprechen sie meist aneinander vorbei. Ausgehend von der gemeinsamen Sprache sollte die deutsche Einheit eine Vorübung für Europa werden: Zuerst die Währungsunion und – möglichst kurz danach – die politische Einheit. Das liegt so tief in unseren Denkgewohnheiten, daß die Gefahr besteht, daß es nun auch auf europäische Ebene tatsächlich so umgesetzt wird. Da der Mensch jetzt so weit ist, daß er nur bis eins rechnen kann, wird es wohl bald eine europäische Einheit geben.

Das Problem dabei ist nicht, daß Europa – anders als Deutschland – nicht eine Sprache spricht. Auch nicht, daß man dort – wie eigentlich auch in Deutschland selber – nicht dieselbe Sprache spricht, sprich aneinander vorbeispricht. Das Problem ist vielmehr, daß es keine übergreifende Einheit geben kann, weil das Kulturelle, das Politische und das Wirtschaftliche ihre jeweils eigenen Wege gehen müssen.

Kulturell gibt es keine kollektive Einheit, sondern der einzelne Mensch - das Individuum - ist der Unteilbare. Die Deutschen sollten daher statt dem Tag der deutschen Einheit lieber den Tag der individuellen Einheit feiern. Hier müssen alle Mauern, alle Grenzen fallen, die man sich nicht selber gesetzt hat. Jeder hat die eigene Fahne. Und als Text für dasjenige, was man früher Nationalhymne genannt hat, würden sich diese Verse von Friedrich Schiller gut eignen:

Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es Deutsche vergebens
Bildet euch dafür, ihr könnt es, freier zu Menschen euch aus

Aber wie immer werden beide - das Kulturelle und das Politische - miteinander verwechselt. Der Fall der Mauer am 9. November steht zu Recht weltweit für die individuelle Freiheit, für den Neuanfang der Gedankenfreiheit. Daß es auch mit der Kristallnacht einen anderen 9. November gegeben hat, wissen im Ausland die wenigsten. Man hätte den Tag also ruhig zum Feiertag machen können. Stattdessen hat sich Helmut Kohl mit seiner staatlichen Wiedervereinigung am 3. Oktober durchgesetzt. Diesen Tag der deutschen Einheit kennen nur die Deutschen, weil sie da frei haben. Der hat null Austrahlung. Das ist ein stinknormaler nationaler Feiertag, wie man es von anderen Ländern kennt. Nichtdeutsche fühlen sich nicht angesprochen. Und was an den Deutschen nicht universell wird, wie das Streben nach individueller Freiheit, ist wertlos.

Nichtdeutsche haben ein Instinkt dafür, daß die Deutschen anfangen zu stinken, sobald sie normal – sprich national – werden. Das gilt auch für diejenigen, die noch im eigenen Nationalismus befangen sind. Es ist nämlich leichter andere Menschen zu durchschauen als sich selber, weil man da die notwendige Distanz hat. Sie spüren, daß es keine deutsche Nation geben kann. Und wenn sie das Gegenteil behaupten, ist das nur aus Höflichkeit einem Helmut Kohl gegenüber oder um sich nicht selber in Frage stellen zu müssen. Eine solche Übereinstimmung ist Heuchelei.

Ich bin nicht umsonst hier geblieben, obwohl ich aus einem anderen Land, einer anderen Sprache her komme. Wer heimatlos ist, fühlt sich hier wohl, weil viele einen Hauch von Heimatlosigkeit haben. Es gibt natürlich die anderen, die geistig zurückgeblieben sind. Darunter die meisten Politiker. Das geht vom scheinheiligen Vertreter des christlichen Europas bis zur sozialdemokratischen Marionette europäischer Großkonzerne. Solange es die gibt, ist es wohl zu früh zum Feiern.

Was Deutschland braucht ist ein Tag, wo hier genug Menschen einsehen, daß die deutsche Sprache keinen Anspruch auf politische Unterstützung haben kann. Wo Politiker aller Parteien es sich nicht mehr leisten können zu fordern, daß Ausländer deutsch lernen. Ein Tag, wo eingesehen wird, daß es in Deutschland nicht nur etwa zwanzig kulturelle Minderheiten gibt, sondern daß jeder Mensch eine Minderheit ist. Ein Tag, wo ein Kopftuch oder ein Kreuz an der Halskette – egal ob auf der Straße oder an der Schule – höchstens Mitleid weckt, aber keinen Ruf nach dem Gesetzgeber. Ein Tag, wo Christen nach jahrzehntelangem Widerstand nicht plötzlich auch den Tierschutz in die Verfassung verankern wollen, in der Hoffnung damit den Moslems das Schächten verbieten zu können. Oder, wenn die Christen sowieso nicht zu retten sind, dann ein Tag, wo Lehrer statt auf die Lehrpläne oder den Beruf der Eltern auf die Kinder selber schauen dürfen, um sie individuell besser zu fördern. Ein Tag, wo Bildungspolitiker sich nicht mehr fragen, was sie tun können, sondern was sie lieber unterlassen sollten.

Ein solcher Tag würde es verdienen, gefeiert zu werden – in der ganzen Welt.

Sylvain Coiplet