Die Lust am Wandel

01.01.2003

In Seinem Buch: »Die Alternative, Wege und Weltbild des Alternativen Nobelpreises« führt Geseko von Lüpke, anhand ganz konkreter Initiativen und Aktivitäten einzelner Menschen, einerseits den ganzen Wahnsinn unserer Weltentwicklung aber andererseits das immer wieder mutige aufbrechen eines mechanistischen Systems durch die Menschlichkeit, deutlich vor Augen. Mit seiner Beschreibung des gegenwärtigen Ist-Zustandes der Weltentwicklung stellt er jeden Einzelnen vor die Möglichkeit und Herausvorderung bewußt Mitverantwortung zu übernehmen.

Elisabeth Weber

Die Lust am Wandel

Am Ende dieses Buches mag man sich erstaunt die Augen reiben und sich fragen, ob die enormen Dimensionen des Wandels im Wahrnehmen, Denken und Handeln bislang nur an einem vorübergegangen sind. Ob es wirklich überall Hoffnung gibt und eine nachhaltige, gerechte und zukunftsfähige Welt vielleicht sogar schon vor der Tür steht? Oder ob, im Gegenteil, die Bedeutung der alternativen Ansätze vielleicht maßlos überschätzt wird? Die Antwort auf diese Fragen wird bei jedem anders ausfallen, denn sie ist abhängig vom Standpunkt und Umfeld des Fragenden.

Die schlechte Nachricht lautet, dass die Zukunft trotz aller guten Ansätze nicht sicherer geworden ist. Die gute Nachricht lautet, dass es andere Zukünfte trotz Margaret Thatchers apodiktischem »There is no alternative« gibt.

Was hier beschrieben wurde, ist keine Bewegung mit einem, klar definierten Ziel, die sich im politischen Kampf zweier klar definierter Größen durchsetzen will. Dieses Buch ist vielmehr als die Momentaufnahme des Prozesses einer Selbstorganisation zu verstehen, die an vielen Stellen auf dem Globus zwar gleichzeitig, aber auf unterschiedliche Art und Weise stattfindet. Ihr Fokus liegt weniger auf der »Rettung der Welt« als auf der engagierten Verbesserung der Verhältnisse vor Ort. Was diese Initiativen gemeinsam haben, ist eine andere Sicht der Welt. Sie verstehen sich im weitesten Sinne jeweils als aktiven Teil eines lebendigen Evolutionsprozesses und handeln meist aus dem Gefühl einer tiefen Verbundenheit und Liebe zur Welt, die sie als lebendig und beseelt empfinden. Diese Verbundenheit scheint ihnen die Kraft zu geben, das Ausmaß der Zerstörung anzuerkennen, sich den Fehlentwicklungen zu stellen und in kleinem Rahmen nach neuen Lösungen zu suchen.

Was sie nährt, selbst erhält und wachsen lässt, ist die Lust am Wandel. Statt nur passiv zu beschreiben, was verkehrt läuft in der Welt, haben sie den Schritt vollzogen, ihren persönlichen Lebenssinn, ihr Gefühl von Freude, ihre spirituellen Werte und ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft in der Transformation der Gesellschaft selbst zu finden. Statt aus Angst und Depression zu handeln, verbinden sie in einer Art »sozialer Mystik« persönliches Wachstum und politische Aktion. Statt gegen einen prognostizierten Crash anzurennen, erleben sie in ihrer politischen Arbeit selbst einen Gewinn an Lebensqualität, Solidarität, sozialer Gemeinschaft und spiritueller Verbundenheit. Es geht also weniger um ihre Kraft und Macht als um die Qualität ihres Tuns. Sie ist die eigentliche Quelle ihres Erfolgs an so vielen Orten der Welt.

Das fast kohärente Bild einer möglichen »anderen Zukunft«, das entsteht, wenn man all die vielen alternativen Ansätze systematisch und nebeneinander darstellt, ist noch keine politische Realität. Die vielen einzelnen Ansätze der Reform haben sich noch nicht wirklich zu einer Gegenkultur vereint. Was in den letzten Jahren jedoch zu beobachten ist -und durch die Vergabe des Alternativen Nobelpreises enorm gefördert wird -, ist ein zunehmender Prozess der Vernetzung von Initiativen und der Kooperation zwischen ihnen. Was da entsteht, ist ein meist noch unsichtbares -und nicht selten »virtuelles« -Netzwerk, dessen Größe und tatsächliches Potenzial aber kaum abzuschätzen sind, weil sie meist auf persönlichen, informellen Beziehungen beruhen, die den Globus überziehen. »Die Frage ist«, sagt Hans-Peter Dürr, »ob wir so etwas wie eine kritische Masse werden, damit wirklich ein Prozess in Gang kommt und wir nicht einzelne Rufer in der Wüste bleiben. Wir wissen, dass solche Lernprozesse langsam sind und man nicht die Geduld verlieren darf.«

Die große Unbekannte im Kampf um eine lebenswerte Zukunft liegt in der Komplexität und Vielfalt der Initiativen. Wer den »Possibilisten« vorhält, ihr Engagement möge ja im engen und überschaubaren Rahmen eines lokalen Projektes Erfolg haben, könne aber nicht auf die ganze Welt angewendet werden, den verweisen sie gerne auf die politischen Wunder der letzten Jahre: den unvorhersehbaren Fall der Mauer zwischen beiden deutschen Staaten, das Ende des Kalten Krieges ohne Blutvergießen, die Überwindung der Apartheid. Alles Ereignisse, deren politische Vorgeschichte von einer so hohen Komplexität geprägt war, dass es jedem Analysten unmöglich war, sie zu prognostizieren. Die einzige Chance besteht darin, ohne Rücksicht auf den globalen Erfolg lokal etwas für den Wandel zu tun und damit die Chancen für überraschende Synergien zwischen all diesen kleinen Ansätzen zu erhöhen.

Ob die wachsende Gegenkultur damit den Prozess der Zerstörung wirklich stoppen kann oder nicht, ist völlig offen. Doch ist dies auch nicht die alles entscheidende Frage. Denn jede Initiative wirkt, unabhängig vom globalen Erfolg, auf vielen verschiedenen Ebenen, von denen manche sichtbar, andere subtil und unsichtbar bleiben. Die neuen Modelle haben alle ihren Sinn, egal ob sie den »großen Crash« verhindern oder erst nach einem Zusammenbruch der industriellen Wachstumsgesellschaft wertvolle Erfahrungen für einen dann unvermeidbaren Neuanfang bereit stellen.

»Wir sind die neuen >Klöster<«, hat deshalb Manfred Max-Neef einmal emphatisch gesagt, »in denen der Reichtum unserer kulturellen Verschiedenartigkeit und Mannigfaltigkeit bewahrt werden soll, bis die barbarischen Horden mit ihrer Gleichförmigkeit, ihrem Machthunger, ihrem Blutsaugertum und ihrer Gier unter der untragbaren Last ihrer eigenen gigantischen Dummheit zusammenbrechen.«[1] Doch trotz der wütenden Verzweiflung, die aus diesen Worten spricht, setzt auch Max-Neef darauf, dass es parallel zur Verbreitung der Dummheit viele neue Versuche gibt, den Unsinn zu beenden.

»Die charakteristischen Eigenschaften dieser Versuche sind, dass sie alle kleine Versuche sind, aber eine verflixt große Anzahl davon. Das gibt mir Hoffnung, denn eine Hand voll Zwerge ist weit mächtiger als ein großer Riese. Wenn ein Riese zusammenbricht, bricht er nur einmal zusammen. Zwerge sind wie Mücken -und Mücken können einen Elefanten wahnsinnig machen, einen Tiger oder auch uns wild machen. Deshalb ist die Moskitostrategie so außerordentlich wichtig für eine neue Hoffnung.«[2]

Über die Zahl der Zwerge und Moskitos kann nur spekuliert werden. Was in diesem Buch deutlich wurde, ist der hohe Grad ihres Mutes, ihrer strategischen Ideenvielfalt und schöpferischen Kreativität, die Tiefe ihrer theoretischen Einsichten, ihres emotionalen Engagements und ihrer spirituellen Werte, ihrer Fähigkeit, Visionen zu entwickeln und sie geduldig in kooperativen Gemeinschaften praktisch umzusetzen.

Sie mögen wie eine moderne, höchst bewegliche Avantgarde wirken, die Spuren in eine andere Zukunft legt, auf denen die schwerfällige Mehrheit irgendwann folgen kann. Doch es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die hier dargestellten Aktivisten nur der sichtbare Teil einer schon großen Gruppe von Menschen sind, die sich in wachsender Zahl dem konventionellen System verweigern und zunächst noch im Privaten nach ganz neuen Werten suchen.

Der Wandel, den die Gesellschaft am Beginn des 21.Jahrhunderts durchmacht, ist also möglicherweise weit größer, als er vordergründig wirkt. Er stellt nicht nur konventionelle Weltbilder und Überzeugungen infrage, sondern vielleicht auch traditionelle Formen der politischen Teilhabe und Organisation sowie die herkömmliche Dichotomie zwischen »linker« und »rechter« Politik. Für die Aktivisten käme es dann darauf an, das demokratische Potenzial, das in diesem wachsenden Teil der Bevölkerung verborgen liegt, mit neuen Wegen und Methoden zu wecken und zu verhindern, dass die Lust am Wandel sich im Privaten erschöpft.

Herkömmliche Parteistrukturen scheinen dafür nicht oder noch nicht geeignet zu sein. Das gegenwärtig enorm schnelle Wachstum der Antiglobalisierungsbewegung Attac, die sich dezentral, basisdemokratisch und ohne festgelegtes Programm über lockere regionale und nationale Netzwerke organisiert, mag ein Hinweis darauf sein, wie es weitergeht.

Die massive politische Reaktion der herrschenden Eliten auf die Zunahme der weltweiten Proteste, die Härte von Polizeieinsätzen bei Demonstrationen in Seattle, Washington, Prag und Genua sowie die kontinuierlichen Versuche, die alternative Gegenbewegung zu kriminalisieren, machen deutlich, dass die Intensität der politischen Auseinandersetzung wohl noch zunehmen wird. Konflikte werden bei einer solchen grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft kaum zu vermeiden sein. Zur Frage, ob sich der wachsende Widerstand vom evolutionären demokratischen Protest irgendwann in revolutionäre Aktion verwandelt, sagt die indische Aktivistin Vandana Shiva:

»Revolution bedeutete immer drastischen, dramatischen und oft gewalttätigen Wandel, während Evolution für langsame Veränderung in kleinen Schritten stand. Wenn es um die Geschwindigkeit des notwendigen Wandels geht, glaube ich nicht, dass wir uns einen evolutionären Prozess leisten können. Es muss sich um eine radikaIe Transformation handeln. In diesem Sinne muss sie revolutionär sein. Wenn die Zerstörungen so revolutionär, so radikal und schnell sind, muss jede Eindämmung der Zerstörung ebenso schnell sein, sonst greift sie nicht. Wenn es aber um die Frage der Gewaltlosigkeit und der politischen Methoden geht, dann müssen sie einerseits sehr dramatisch und dringend sein, aber zugleich in dem Sinne absolut friedlich und evolutionär, dass es zu keiner direkten Gewalt gegen irgendeinen anderen Menschen kommt.«

Anmerkungen

[1] Max-Neef, Manfred: Barfuß-Ökonomie, in: Uexküll (1990), S. 27
[2] Max-Neef, Manfred: »Eine Handvoll Zwerge ist weit mächtiger als ein Riese«, Laudatio zum 70. Geburtstag von Leopold Kohr, Archiv der Right Livelihood Foundation, Stockholm

Geseko v. Lüpke
aus »Die Alternative, Wege und Weltbilder des Alternativen Nobelpreises« (2003)

Bücher von Geseko v. Lüpke im Buchhandel:

Geseko v. Lüpke & Sylvia Koch-Weser
Vision Quest – Visionssuche
Allein in der Wildnis auf dem Weg zu sich selbst (2000);

Geseko v. Lüpke
Politik des Herzens
Gespräche mit den Weisen unserer Zeit (2003);

Geseko v. Lüpke und Peter Erlenwein
Projekte der Hoffnung: Der Alternative Nobelpreis
Ausblicke auf eine andere Globalisierung (2005)

Geseko v. Lüpke
Altes Wissen für eine Neue Zeit
Im Dialog mit den Schamanen des 21. Jahrhunderts (2008)

Geseko v. Lüpke
Zukunft entsteht aus Krise
(Riemann-Verlag / Oktober 2009)