Anarchismus - Peter Kropotkin und Rudolf Steiner

Freiheit oder Brüderlichkeit: Anarchismus als Kampf ums Dasein oder als gegenseitige Hilfe

01.04.2000

Aus Anarchismus und soziale Dreigliederung - Ein Vergleich

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Mit seinem Prinzip der Gegenseitigen Hilfe richtet sich Kropotkin gegen die Darwinisten mit ihrer Vorstellung vom Kampf ums Dasein. Dies ist auch der eigentliche Anlaß für Steiner gewesen, sich mit Kropotkin auseinanderzusetzen. Anders als die bisher erwähnten Aussagen von Proudhon und Bakunin greift nämlich Steiner die Ausführungen Kropotkins bezüglich der Gegenseitigen Hilfe in seinen Vorträgen auf. Sie stehen sogar zusammen mit dem Buch "Welträsel" des Darwinisten Haeckels im Mittelpunkt seiner Berliner Vortragsreihe im Winter 1905/06. Das Hauptwerk von Kropotkin war gerade eben 1904 unter dem Titel "Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung" ins Deutsche übersetzt worden. Was in diesen Vorträgen fehlt, ist der Hinweis darauf, daß Kropotkin zu den Anarchisten zu rechnen ist. Dies wird, so viel ich sehen konnte, auch später von Steiner nie erwäht. Das erfährt man erst, wenn man sich selber mit der Ideengeschichte des Anarchismus beschäftigt.

Im Frühwerk von Steiner trifft man immer wieder auf Stellen, wo er dem Darwinismus zustimmt. Spuren dieser Zustimmung gibt es bis in seinem damaligen Hauptwerk, der "Philosophie der Freiheit". Das Kapitel über die moralische Phantasie trägt nämlich einen sonderbaren Untertitel: "Darwinismus und Sittlichkeit". Dort versucht er klar zu machen, daß ein richtig verstandener Darwinismus den von ihm vertretenen ethischen Individualismus nicht ausschließt. Ein solcher Individualismus soll vielmehr direkt aus der darwinistischen Entwicklungstheorie folgen. Dazu läßt sich die Stelle hinzunehmen, wo Steiner auf Anfrage von Mackay den ethischen Individualisten mit dem individualistischen Anarchisten gleichsetzt. Gemeint sind die Anarchisten, die sich wie Mackay gern auf Stirner berufen. Beides zusammen macht es leichter zu verstehen, warum Steiner gelegentlich eine Parallele zwischen Darwin und Stirner zieht. Ihm geht es dabei, seinen Ansatz als Redakteur der Zeitschrift "Magazin für Literatur" zu verdeutlichen. Dort will er sich für eine freie Konkurrenz der Meinungen einsetzen und jede überhebliche Zensur vermeiden. Die anderen Autoren läßt er ihre Meinung ausdrücken. Die eigene Meinung kann er doch selber sagen. Hier kommen Darwinismus und konsequenten Individualismus zusammen. Eine solche Ehe hat allerdings Folgen: Wie steht es dann um den Individualismus, wenn Darwin in Frage gestellt wird?

Um diese Frage zu beantworten, muß erst einmal geklärt werden, was Kropotkin genau an Darwin auszusetzen hat. Kropotkin stellt nicht in Frage, daß es einen Kampf ums Dasein gibt. Unter Kampf ums Dasein meint er aber nicht den Kampf innerhalb einer Tierart. Gekämpft wird stattdessen gegen die Naturgrundlage, insbesondere gegen die klimatischen Verhältnisse. Hier spricht Kropotkin als Geograph, der seine erste Erfahrungen in Sibirien gesammelt hat. Kropotkin gesteht sogar, daß es auch gelegentlich Kämpfe innerhalb der jeweiligen Tierarten geben kann. Er sieht aber darin keine Regel, sondern eher Ausnahmen. Nur die wenigsten Tierarten können sich den Luxus leisten, sich selbst zu zerfleischen. Die meisten müssen stattdessen zur gegenseitigen Hilfe greifen, um mit der Naturgrundlage fertig zu werden. Die gegenseitige Hilfe ist also bei den verschiedenen Tierarten unterschiedlich ausgeprägt. Geht eine Tierart bei dieser gegenseitigen Hilfe nur weit genug, so verschafft sie sich ein bißchen Luft. Sie ist bald nicht mehr allein damit beschäftigt zu überleben. Ihr geht es so gut, daß sie sich auch weiterentwickeln kann. Kampfhähne können höchstens ihre Haut retten, wie sie ist. Andere Tiere wie die Affen können durch gegenseitige Hilfe darüber hinaus ihre Haut wechseln, sich steigern. Kropotkin behauptet nicht, daß Darwin dies nicht auch gesehen hat. Er führt selber eine Stelle an, wo Darwin die gegenseitige Hilfe zu den Waffen im Kampf ums Dasein rechnet. Dieser Gesichtspunkt wurde aber von seinen Nachfolgern oder Mitstreitern wie Huxley, der im Mittelpunkt der Kritik Kropotkins steht, nicht aufgegriffen.

Anders als die meisten damaligen Gegner Darwins, stellt also Kropotkin nicht die Entwicklung der Arten in Frage. Diese Entwicklung wird aber durch den gemeinsamen statt durch den gegenseitigen Kampf vorangetrieben. Laut Steiner ist die Frage nach der Entwicklung Kropotkin sogar noch wichtiger gewesen als sie es jemals für Darwin gewesen ist. Er führt nämlich aus, daß es Darwin anders als Kropotkin eigentlich nicht um die Entwicklung, sondern um die Entstehung der Arten ging. Dies wird auch bestätigt durch den Titel seiner beiden ersten Hauptwerke: On the Origin of Species by means of Natural Selection (1859) und The Descent of Man, an Selection in Relation to Sex (1871). Steiner spricht hier aber einen Punkt an, der von anderen Autoren leicht übersehen wird. Sie machen nämlich keinen Unterschied zwischen Entwicklung und Entstehung, obwohl beide diametral entgegengesetzt sind, die erste zukunfts-, die zweite vergangenheitsbezogen. Von ihrem Gesichtspunkt aus gesehen, stimmen Darwin und Kropotkin darin überein, daß es eine Entwicklung der Arten gibt. Der Unterschied zwischen den beiden liege nur darin, wie diese Entwicklung stattfindet, welche Faktoren diese Entwicklung fördern sollen.

Wird dieser Gesichtspunkt eingenommen und das Wie der Entwicklung außer Acht gelassen, dann läßt sich die Parallele zwischen Darwin und Kropotkin sogar noch weiter ziehen. Wie schon Darwin schreckt Kropotkin nicht davor zurück, von den Tieren auf den Menschen zu schliessen. Da der Mensch vom Tier abstammt, ist es für Kropotkin selbstverständlich, daß er den Entwicklungsgang des Tieres nur weiter führt. Es ist so selbstverständlich, daß es Kropotkin von sich aus gar nicht besonders erwähnen würde. Dies liegt eher unausgesprochen dem ganzen Aufbau seines Werkes zugrunde. Es ist also schon im Tier angelegt, daß die gegenseitige Hilfe immer breitere Kreise um sich zieht, um schließlich beim Menschen weltweit zu werden. Bei der Darstellung seiner Idee hat er aber immer wieder die Erfahrung gemacht, daß ihm leichter für die Tiere als für die Menschen Recht gegeben wird. Eine solche Unterscheidung zwischen Tier und Mensch lehnt er aber kategorisch ab. Der Schwerpunkt seines Buches liegt gerade bei der Beschreibung der gegenseitigen Hilfe bei dem Menschen. Er wirft sogar Darwin vor, als Wissenschaftler inkonsequent gewesen zu sein. Darwin beobachtet bei den Tieren, wie die gegenseitige Hilfe die geistige oder physische Kraft ersetzen kann. Bei den Menschen spricht er sich aber wie schon Malthus gegen eine Erhaltung der geistig und physisch Schwachen aus. Wenn die Tiere die Schwächeren mittragen können, können dies auch die Menschen. Was Darwin für die Tiere zugibt, das sollte er auch bei den Menschen zugeben.

Steiner ist sich mit Darwin und Kropotkin einig in der Betonung der Entwicklung. In seiner Antwort auf die "Welträtsel" von Haeckel, seiner "Geheimwissenschaft im Umriß" (1910), ist der Entwicklungsgedanke allgegenwärtig, nicht nur beim Tier und beim Menschen, sondern sogar bei den Göttern. Auch geistige Wesenheiten steigern sich mit der Zeit. Diese Art der Geheimwissenschaft legt den Grund für eine Erweiterung des Entwicklungsbegriffs. Sie führt damit gerade zu dem, was die echten Katholiken mit ihrem Kampf gegen den Darwinismus verhindern wollten. Von einer Entwicklung der Tierarten und der Menschenart wollten sie nichts hören, weil sie die Vollkommenheit Gottes in Frage stellte. Wer nachbessern muß, ist ein Pfuscher gewesen. Der Darwinismus führt zwangsläufig zur Gotteslästerung. Steiner hält dem entgegen: Wer nicht nachbessern will, wird zum Pfuscher. Es mag seit einigen Jahren den Katholiken erlaubt sein, den klassischen Darwinismus für möglich zu halten. Seine Erweiterung durch Steiner hat aber gute Gründe, vorerst auf dem Index zu bleiben.

Dieser Entwicklungsgedanke Steiners ist auch ausschlaggebend für das, was er unter Freiheit versteht. Die Freiheit ist dem Menschen nicht gegeben, sondern von ihm zu erringen. Sie steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Entwicklung. Der Mensch ist nicht frei, er kann es werden. Dies zu zeigen soll sein Anliegen beim Verfassen seiner Philosophie der Freiheit gewesen sein. Dieses Thema wird im nächsten Kapitel wieder aufgegriffen. Hier sollte an diesen beiden Beispielen nur gezeigt werden, welche zentrale Rolle der Entwicklungsgedanke bei Steiner spielt.

Was die Übertragung vom Tier auf den Menschen anbelangt, da widerspricht aber Steiner entschieden dem gemeinsamen Ansatz von Darwin und Kropotkin. Die physische Abstammung des Menschen sagt noch nichts über seine geistige Verfassung. Wie es um letztere steht, das kann nur die direkte Beobachtung zeigen. Hier hilft keine Tierbeobachtung, sondern nur die Selbstbeobachtung. Will man beides, das Tier und den Menschen vergleichen, dann muß man auch beide beobachtet haben.

Was beobachtet nun Steiner? In seiner Beobachtung der Tiere stimmt er mit Kropotkin überein. Dort gilt in der Tat das Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Kropotkin trifft also mit seinem Ansatz ins Schwarze. Es heißt allerdings nicht, daß er mit seiner Beobachtung unbefangener umgeht als Darwin. Laut Steiner zeigt nämlich die Selbstbeobachtung, daß bei den Menschen anders als bei den Tieren der darwinistische Kampf gilt. Der von Huxley mitinitiierte Sozialdarwinismus ist nur scheinbar eine Übertragung vom Tier auf den Menschen gewesen. Die eigentliche Übertragung ist eine vom Menschen auf das Tier gewesen.

Tatsache ist die wirtschaftliche Konkurrenz unter den Menschen. Sie prägt die Geister, genauso die Wissenschaftler. Darwin hat die Tiere durch die Brille des Menschen gesehen. Erst dann konnte er überhaupt etwas sehen. Jahrzehntelang irrt er in seinen Naturbeobachtungen herum, ohne irgendwelche Orientierung finden zu können. Ihm fehlt jede Theorie. Dann kommt bei ihm die Erinnerung an Malthus wieder hoch: Menschen vermehren sich schneller als ihre Nahrungsgrundlage, Kriege sorgen dafür, daß die beiden wieder ins Gleichgewicht kommen. Hier liegt des Rätsels Lösung. Darwin ist sogar so ehrlich, die eigentliche Quelle seiner Theorie anzugeben. Es hat aber nicht verhindern können, daß der Sozialdarwinismus oder sogar der Malthusianismus für den Nachfolger des biologischen Darwinismus gehalten wird, obwohl sie beide eigentlich seine Vorläufer sind. Diesen Fehler macht Kropotkin nicht. Darwin hat er im Original gelesen und ist auf die Stelle gestoßen, wo Darwin auf Malthus hinweist. Ihm ist also klar, daß der Sozialdarwinismus nur eine Rückübertragung von Malthus auf die Sozialwissenschaft darstellt. Aus dieser Stelle macht er aber nichts. Er hat eben prinzipiell nichts gegen Übertragungen einzuwenden. Ihn stört nicht daß sondern was übertragen wird.

Es fragt sich nur, woher der Unterschied zwischen Tier und Mensch herkommen soll. Steiner beschreibt wie sich der Mensch, anders als das Tier, aus seiner Gruppenseele herausarbeitet. Er läßt sich dadurch nicht mehr mit einem einzelnen Tier, sondern nur mit einer ganzen Tierart vergleichen. Jeder Mensch hat seine Eigenart, seine Einzigartigkeit.

Diesen Individualisierungsprozeß nennt Steiner auch einmal in einer Auseinandersetzung mit Stein das soziologische Grundgesetz:

" Von der Entwicklung des Rechts sagt Stein: " Die Seele der Entwicklung des Rechts, das sich ursprünglich auf die ganze Gens erstreckte, um sich allmählich der einzelnen körperlichen Individuen zu bemächtigen und dann innerhalb dieser Individuen von der Körperhaftigkeit in die feinsten und zartesten seelischen Verästelungen, zeichnet uns ein flüchtiges zwar, aber doch genügend charakterisierendes Bild von dem in unendlicher Fortbewegung befindlichen Individualisierungsprozeß des Rechts " (S. 151).

Mir scheint nun, daß es nach Feststellung dieser Tatsachen Aufgabe des soziologischen Philosophen gewesen wäre, überzugehen zu dem soziologischen Grundgesetz in der Menschheitsentwicklung, das mit logischer Notwendigkeit daraus folgt, und das ich etwa in folgender Weise ausdrücken möchte. Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.

Nun handelt es sich darum, aus dieser geschichtlichen Tatsache die Folgerungen zu ziehen. Welche Staats- und Gesellschaftsform kann die allein erstrebenswerte sein, wenn alle soziale Entwicklung auf einen Individualisierungsprozeß hinausläuft? Die Antwort kann allzu schwierig nicht sein. Der Staat und die Gesellschaft, die sich als Selbstzweck ansehen, müssen die Herrschaft über das Individuum anstreben, gleichgültig wie diese Herrschaft ausgeübt wird, ob auf absolutistische, konstitutionelle oder republikanische Weise. Sieht sich der Staat nicht mehr als Selbstzweck an, sondern als Mittel, so wird er sein Herrschaftsprinzip auch nicht mehr betonen. Er wird sich so einrichten, daß der Einzelne in größtmöglicher Weise zur Geltung kommt. Sein Ideal wird die Herrschaftlosigkeit sein. Er wird eine Gemeinschaft sein, die für sich gar nichts, für den Einzelnen alles will. Wenn man im Sinne einer Denkungsweise, die sich in dieser Richtung bewegt, sprechen will, so kann man nur alles das bekämpfen, was heute auf eine Sozialisierung der gesellschaftlichen Institutionen hinausläuft. Das tut Ludwig Stein nicht. Er geht von der Beobachtung einer richtigen Tatsache, aus der er aber nicht ein richtiges Gesetz folgern kann, zu einer Schlußfolgerung über, die einen faulen Kompromiß darstellt zwischen Sozialismus und Individualismus, zwischen Kommunismus und Anarchismus." (Hervorhebungen von mir)

Der Einzelne ist hier eng verwandt mit dem von Stirner angestrebten Einzigen. Individualismus und Anarchismus bedeuten daher dasselbe. Was wird aber aus der gegenseitigen Hilfe von Kropotkin, wenn der Mensch nicht mit dem einzelnen Tier, sondern nur mit einer ganzen Tierart gleichgesetzt werden kann?

Die gegenseitige Hilfe innerhalb der Tierart wird beim Menschen zur Einigkeit mit sich selbst. Er hört auf, sich seelisch selbst zu zerstören. Es gibt aber auch die andere Seite der Medaille: Jeder Mensch ist eine andere Art, der Kampf aller Menschen gegen alle ist also nicht mehr ausgeschlossen. Was bei den Tieren sozial wirkt, kann beim Menschen unsozial werden. Die gegenseitige Hilfe innerhalb der Tierart wird nicht zur gegenseitigen Hilfe innerhalb der Menschenart. Die Einigkeit der Menschheit muß sich der Mensch anderswoher holen. Sie ist ihm wie die Freiheit nicht gegeben. Er muß sie sich vielmehr aus eigener Kraft erringen.

Kropotkin macht es sich lieber einfacher. Er will ausdrücklich nicht nach dem Ursprung der gegenseitigen Hilfe suchen. Er beschränkt sich darauf, zu zeigen, daß es sie gibt, daß sie eine Tatsache ist. Sonst müßte er sich fragen, ob alte Formen der gegenseitigen Hilfe nicht in ihr Gegenteil umschlagen können. Er sieht zwar ein, daß jede Form der gegenseitigen Hilfe nach einiger Zeit in eine Krise kommt. Sie wird aber bald durch eine andere Form überwunden. Bezeichnend für diese neue Form ist, daß sie immer breiter ist als die vorige. Mit diesem Ansatz kann Kropotkin der Krise im Übergang vom Tier zum Menschen nicht gerecht werden. Dort ist die neue Form der gegenseitigen Hilfe erst einmal enger als die vorige. Es geht zunächst um die schon erwähnte Einigkeit des Einzelmenschen mit sich selbst.

Einer zweiten Krise wird Kropotkin schon eher gerecht. Die Neuzeit bringt seiner Meinung nach durch ihre Weltwirtschaft eine weltweite gegenseitige Hilfe. Es läßt sich natürlich darüber streiten, ob diese Weltwirtschaft nicht nur weltweit, sondern auch brüderlich ist. Dies ist aber hier nicht entscheidend. Angenommen, es wäre schon so weit, dann stellt sich noch eine ganz andere Frage. Wie wird sich die Krise der weltweiten gegenseitigen Hilfe überwinden lassen? Eine weitere Ausbreitung ist diesmal unmöglich. Aus der Weltkrise scheint es also zunächst keinen Ausweg zu geben. Kropotkin geht zwar auf dieses Problem nicht ein, bringt aber Elemente zu seiner Lösung. Schon bei den Tieren will er beobachtet haben, daß die gegenseitige Hilfe nicht nur breiter, sondern auch immer freiwilliger wird. Insekten wie die Bienen zeigen eine sehr stark ausgeprägte gegenseitige Hilfe. Sie sind aber noch physiologisch aufeinander angewiesen. Bei weiterentwickelten Tieren fällt dieser physische Zwang weg. Auch bei den Menschen achtet Kropotkin nicht nur auf die Breite, sondern auch auf den Freiheitsgrad der gegenseitigen Hilfe. Wird sie weltweit, dann ist mit ihrer Entwicklung nicht unbedingt Schluß. Sie kann immer noch freilassender werden.

Das Ideal der Freiheit spielt also nicht nur bei Proudhon und Bakunin, sondern auch bei Kropotkin eine wichtige Rolle. Dies erklärt, warum er den Staat nicht zu den Entwicklungsstufen der gegenseitigen Hilfe zählt. Ihre Entwicklung geht vom Stamm über das Dorf zur mittelalterlichen Stadt, springt aber dann unmittelbar zur neuzeitlichen Weltwirtschaft. Von der Größe her gesehen, müßte Kropotkin den Staat als Zwischenstufe zwischen Stadt und Welt anerkennen. Dies macht er nicht. Der Staat heißt für ihn Zwang und stellt gemessen an der Stadt daher keinen Fortschritt, sondern einen Rückfall dar. Der Staat ist keine Form der gegenseitigen Hilfe. Er steht vielmehr für die Krise der mittelalterlichen gegenseitigen Hilfe. Was das Mittelalter an Solidarität zu bieten hatte, wie zum Beispiel die Zünfte, wird von ihm verboten. In seiner Einschätzung des Staates zeigt sich Kropotkin als ein echter Anarchist.

Die bei Kropotkin angelegte Antwort auf die Krise der Weltwirtschaft würde Steiner allerdings nicht befriedigen. Seine eigene Antwort unterscheidet zwischen Geistesleben und Wirtschaftsleben. Vom Wirtschaftsleben selbst ist keine Verbesserung mehr zu erwarten. Stößt es auf die Weltgrenzen, so kann es nicht mehr wie früher einfach durch Zusammenschlüsse noch besser werden. Und von Steiner wissen wir schon: was sich nicht steigert, geht unter. Dies gilt bei ihm auch für das Wirtschaftsleben. In dieser Hinsicht hat er nichts einzuwenden gegen das wirtschaftliche Wachstum. Die Einwände kommen von der physischen Welt, die nicht ewig mitwachsen kann. Weitere Verbesserungen können also nur von einem befreiten Geistesleben kommen. Das Geistesleben natürlich nicht im Sinne einer schöngeistigen Selbstbefriedigung, sondern als die Entwicklung von Fähigkeiten.

Nimmt man diese Ausführungen aus dem Nationalökonomischen Kurs hinzu, dann läßt sich schon eher etwas mit der Stelle anfangen, wo Steiner Kropotkin vorwirft, ein Materialist zu sein. Auslöser ist ein Aufruf Kropotkins aus dem Jahre 1920, wegen der damaligen Hungersnot in Rußland. Der Westen soll sofort Brot schicken. Daß die Kommunisten an der Macht sind darf hier keine Rolle spielen. In der heutigen Sprache würde man sagen, das sei eine rein humanitäre Angelegenheit. In der Sprache von Kropotkin geht es um weltweite gegenseitige Hilfe. Was dieser Ansatz mit Materialismus zu tun haben soll, ist nicht offensichtlich. Zunächst fällt nur auf, daß Kropotkin sein Mögliches tut, um unparteiisch zu sein.

Für Steiner reicht aber dieser Aufruf zu weltweiten Brüderlichkeit nicht aus. Auch wenn dabei die angebliche Freiwilligkeit dieser Brüderlichkeit berücksichtigt wird. Es geht nicht wie Kropotkin nach Brot zu schreien und den Rest auf später zu vertagen. Es ist deswegen materialistisch, weil es die Bedeutung des Geistes, nämlich des Geisteslebens im obigen Sinne, unterschätzt. Brot wird es erst dann geben, wenn die Menschen fähig sein werden, es herzustellen. Eine ausreichende Finanzierung des Geisteslebens ist also eine Vorbedingung des Brotes. Entscheidend ist dabei die Freiwilligkeit dieser Finanzierung. Es geht nicht nur um eine freie Brüderlichkeit wie die freiwillige gegenseitige Hilfe Kropotkins, sondern um die Freiheit selbst. Das Geistesleben braucht die freie Konkurrenz, um fruchtbar sein zu können. Davon will der Kommunismus nichts hören. Mit seinem verzwängten Geistesleben wird man nie zu Brot kommen können. Geht es Kropotkin doch ums Brot, dann gibt es für ihn keinen Ausweg: den Kommunismus muß er eindeutig ablehnen. Mit seiner Unparteilichkeit widerspricht er seinem selbst gesetzten Ziel.

Sylvain Coiplet