Dreigliederung angesagt

01.11.1999

Schon die französische Revolution hat klargemacht, dass es sowohl um Freiheit (liberté) als auch Gleichheit (égalité) als auch Brüderlichkeit (fraternité) der Menschen untereinander geht, und zwar eben Freiheit im Sinne eines freien Kultur- und Geisteslebens, Gleichheit im Rechtsleben und Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben. Wenn man sich nicht immer wieder klar macht, dass das ein Weg zu einer sinnvollen menschengemäßen politischen Ordnung sein kann und entsprechend danach handelt, stehen dem kruden Sozialdarwinismus, wie er sich auf drastische Art und Weise artikuliert, weiterhin Tor und Tür offen, und man braucht sich nicht zu wundern über die Verdrossenheit der Bürger, besonders der jungen Bürger, über Politik und Politiker heute und morgen, drinnen und draußen eines Landes. Wann kommt es vielmehr zu lebenswirklichen, lebenspraktischen Re-Formen, die Mensch und Erde langfristige Lebensperspektiven vermitteln und sinnvolle Lebensorientierung geben können? Re-Formieren heißt eben um-wenden, um-gestalten, um-denken mit allen notwendigen Konsequenzen, wie es Goethe einmal formuliert hat: »Und umzuschaffen das Geschaffene, damit sichs nicht zum Starren waffne« (aus Ein und Alles).

In diesem Sinne wäre auch das Grundgesetz der BRD zu re-formieren und zu ergänzen in Art. 2 (2), dass es heißt: »Jeder hat das Recht auf Leben und Arbeiten und körperliche Unversehrtheit. ... «, da es bereits in Art. 2 (1) heißt: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, ...«. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen ist aber nur dann erst lebensgemäß und lebenspraktisch im Laufe seiner Biographie gewährleistet, wenn er die Chance hat, lernend zu arbeiten bzw. arbeitend zu lernen. Das Leben allein verhilft ihm nicht zu einer freien Entfaltung seiner Persönlichkeit. Als vor 50 Jahren das Grundgesetz in Kraft trat, hatten die Begründer des Grundgesetzes andere Ideen im Blick, um wieder geordnete politische Verhältnisse im Lande herzustellen.

Wie man sieht, schreitet das Leben voran und neue lebensnot-wendige soziale Bedürfnisse stellen sich ein, und diese Entwicklung sollte sich dann auch im Grundgesetz widerspiegeln, auch im Sinne des »Gebetes« von A. Saint-Exupéry: » ... Herr, gib mir nicht, was ich mir wünsche, sondern was ich brauche ...«. Und zweifelsohne braucht jeder Mensch (lokal wie global) zur Entfaltung seiner Persönlichkeit, die Möglichkeit zu arbeiten. Angesichts der veränderten Zeitenlage und dessen, was die Menschen heute und morgen brauchen, ist da m. E. nach wie vor als spezifische sozial-politische Aufgabe der Mitteleuropäer die Einführung der Idee der Dreigliederung in die Politik, in die Wirtschaft und in alle anderen Bereiche einfach hochaktuell. Im Hinblick auf diese immer noch währende Aktualität nach 80 Jahren ist es schon bezeichnend, dass zu diesem runden Termin zwei neue aufschlussreiche Bände der Rudolf Steiner Gesamtausgabe zu diesem Thema erscheinen konnten, wofür von dieser Stelle dem Verlag und den Autoren Dank zu sagen ist.


Quelle: Info3, 11/1999, S.47 (Rubrik: LeserinnenBriefe)
Zu Amnon Reuveni, »Revolution und Stagnation«, Info3, 10/1999