Der Zauberlehrling
Gesellschaftliche Bedingungen notwendiger Technikfolgenbewältigung

01.06.1999

Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, Werd ich nun nicht los. (Goethe - Der Zauberlehrling)

In der Gentechnik überschreiten wir heute Grenzen, die menschlichem Eingriff in die Schöpfung bisher gesetzt waren. Zugleich stoßen wir an Grenzen unserer bisher ausgebildeten Verantwortungsfähigkeit. Während dieses Problem von vielen immerhin bemerkt wird, wird eine andere Frage häufig gänzlich übersehen: die Frage, ob unsere gesellschaftlichen Einrichtungen einen verantwortlichen Umgang mit der Technik überhaupt zulassen. Es geht darum, welche gesellschaftlichen Veränderungen notwendig wären, um zu verhindern, daß technischer Fortschritt immer mehr zum unbeherrschbaren Fortsturz wird, dem wir ausgeliefert sind wie der Goethesche Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr zu bannen vermochte.

In der heutigen Debatte über die Gentechnik werden in der Regel Chancen - etwa in der Medizin - gegen Risiken und Gefahren abgewogen. Je nach Standort wird der Nutzen oder der mögliche Schaden an die erste Stelle gesetzt. Solche Abwägung macht aber nur Sinn, wenn die jeweilige Einschätzung von Technikfolgen überhaupt einen Einfluß auf die Anwendung von Technik hat. Gerade dies scheint fragwürdig in einer Welt, in der sich die realen Entscheidungen mehr und mehr an der Sicherung der jeweiligen Wirtschaftsstandorte in einer gnadenlosen Konkurrenz orientieren. Das Argument der Arbeitsplatzsicherung und drohenden Arbeitsplatzverlagerung verhindert unter solchen Bedingungen eine ruhige Folgenabschätzung technischer Entwicklungen. In der Regel greift das Argument: Wenn wir es nicht machen, machen es andere sowieso.

Schlacht um die Gene

Weil Gentechnik ein Milliardengeschäft ist, ist eine regelrechte "Schlacht um die Gene" 1 entbrannt. Know how über das Erbgut - durch Patente geschützt - verleiht ungeheure Marktmacht. An den Patenten kann niemand vorbei, der sie für Zwecke der Züchtung oder der Medizin nutzen will. 1500 Abschnitte des menschlichen Erbguts sind bereits weltweit patentgeschützt. Die Entdeckungen im Erbgut "werden die Weltwirtschaft verändern", so der Harvard-Ökonom Juan EnrIquez. 2 So mancher clevere Unternehmensgründer träumt davon, dereinst als Bill Gates der Gentechnik die Milliarden zu scheffeln. Der amerikanische Multimillionär Craig Venter mit seiner Firma Celera Genomics hat sich inzwischen anheischig gemacht, in wenigen Jahren 90% des menschlichen Erbguts zu entschlüsseln. Als Reaktion darauf hat die von den USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Japan mit Milliardenbeträgen staatlich geförderte internationale Human Genome Organization (Hugo), die das menschliche Genom vollständig kartieren und das Wissen weltweit zur Verfügung stellen soll, ihre Strategie geändert: Schnelligkeit ist jetzt oberstes Gebot. Das Auftreten eines weiteren Wettbewerbers, des kalifornischen Unternehmens Incyte Pharmaceuticals, verschärfte noch einmal zusätzlich das Tempo. Im Mai 1998 ebnete auch die Europäische Union durch eine entsprechende Richtlinie den Weg zur Genvermarktung.

Das Ende der freien Forschung?

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Wir haben es heute - nicht nur im Bereich der Gentechnik - mit einer ungeheuren Beschleunigung technischer Entwicklungen zu tun. Dabei verändert sich das bisherige Verhältnis zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und Anwendung in der Produktion radikal. Bisher gab es eine durch den Staat aus Steuern finanzierte Grundlagenforschung, die relativ frei war. Die Steuermittel fungierten als eine Art "Zwangsschenkung". Die Forscher unterlagen keiner direkten Ergebnispflichtigkeit. Bisher gab es Erfinder, die mit relativ geringen Vorfinanzierungskosten technische Neuerungen entwickelten und sie dann ökonomisch verwerteten. All das gehört der Vergangenheit an: gentechnische Entwicklungen beispielsweise bedürfen des Einsatzes von Hunderten von Wissenschaftlern und des Einsatzes teurer Geräte. Wer die fortschrittlichste Technologie nutzen will, muß also investieren. Er muß die Ergebnisse der Forschung immer rascher in Produktion umsetzen, wenn er nicht in Rückstand geraten will. Innovationen, die nicht schnell genug zur Fertigungsreife gebracht und vermarktet werden, entwerten sich rasch. Ein schnellerer Prozessor ist heute kaum der Öffentlichkeit vorgestellt, da darf man schon an die Vorstellung eines noch schnelleren denken. Der gewonnene Vorsprung muß zudem gesichert werden, indem rechtzeitig neue Erfindungen ermöglicht werden. Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung. Produktionstechnik wird zugleich zum unmittelbaren Anwendungsbereich der Forschung. Die Erlangung neuer Patente wird für die Unternehmen zur Überlebensfrage in der Konkurrenz. Der einzelne Forscher gerät damit unter einen früher unbekannten Ergebnisdruck. Forschungsmittel müssen sich - so die Devise - rasch amortisieren. Aus Finanzierungsformen eines - wenn auch teilweise staatlich fremdbestimmten Geisteslebens werden ökonomische Investitionen: Freiräume relativ freier Forschung gehen damit verloren. Konzerne gehen verstärkt dazu über, große Teile der Forschung ganz in die Unternehmen zu integrieren - oder ganze Forschungsinstitute von sich abhängig zu machen. Aus noch relativ freiem wird ökonomisch gebundenes Geistesleben, ein Prozeß, der wiederum nicht ohne Rückwirkungen auf die Universitätsinstitute bleibt, für welche die Auftragsforschung eine immer größere Rolle spielt. Wissenschaft wird so zum Büttel der Interessen.

Durch die ökonomische Konkurrenz entsteht ein immer größerer Zeitdruck, der eine ruhige Folgenabschätzung technischer Entwicklungen immer weniger zuläßt. Diese Konkurrenz sorgt dafür, daß dasjenige, was machbar ist, auch gemacht wird. Es ist unmittelbar evident, daß unter einem derartigen Druck seriöse Technikfolgenabschätzung immer schwieriger, ja unerwünscht wird. Der Fortschritt wird auf diese Weise zu einem blinden Fortsturz.

Notwendige Grenzziehungen zwischen Geistes- und Wirtschaftsleben

Was wir erleben, ist ein Verlust an Widerstandskraft des Geisteslebens gegenüber einem konkurrenzbestimmten Wirtschaftsleben. Welche Bedingungen müssen erfüllt werden, damit wir in bezug auf die technischen Entwicklung wieder menschlich handlungsfähig werden? 4 Die erste Bedingung lautet: Es muß gelingen, Grenzen zwischen Forschung und Ökonomie zu ziehen. Die Entscheidung darüber, was überhaupt geforscht wird oder was - wegen fehlender Mittel- unerforscht bleibt, darf nicht von der Ökonomie vorentschieden werden. Wenn Patente von freien Forschungseinrichtungen vergeben würden und mit einer Nutzungsgebühr belastet werden, die einen Teil der aus technischer Anwendung resultierenden Renditen wiederum in freie Forschung fließen ließe, hätten wir eine grundlegend veränderte Situation. Wären Grundlagenforschung und Entwicklung von der Ökonomie getrennt, würden Patente nach Gesichtpunkten gesellschaftlicher Vernunft frei vergeben, dann würde sich im übrigen auch die Situation kleinerer und mittlerer Unternehmen verbessern, die heute durch die ökonomische Machtbündelung in den Konzernen in eine Situation der Abhängigkeit gebracht und teilweise durch Vernichtung bedroht werden. Heute haben wir es im Rahmen der World Trade Organisation (WTO) mit einem verstärkten Schutz "geistigen Eigentums" zu tun, in aller Regel zum Nachteil der Entwicklungsländer. Diese wehren sich daher heute verständlicherweise gegen Auflagen, die den verstärkten Einsatz teurer Umwelttechnik erzwingen wollen. Wäre es möglich, Know how zur Entwicklungsförderung dieser Länder günstig oder sogar kostenlos nutzbar zu machen, entstünden bessere Bedingungen für die weniger entwickelten Länder und für den weltweiten Umweltschutz. Solche Bedingungen müssen geschaffen werden, denn eine globale arbeitsteilige Wirtschaft kann letztlich nur als weltweites Gefüge gegenseitiger Hilfe gestaltet werden.

Zusammenarbeit zur Entspannung der ökonomischen Konkurrenz

Damit ergibt sich zugleich der Ausblick auf die zweite notwendige Handlungsrichtung. Sie liegt im Bemühen um die Überwindung des sich verstärkenden Drucks blinder Konkurrenz in der Ökonomie selbst. Wenn heute ein Konzern einen Mitbewerber übertrumpft und es auf diese Weise bei diesem Mitbewerber zu Werksstillegungen und Arbeitsplatzverlusten kommt, dann wird die dadurch bewirkte Wertvernichtung buchhalterisch nicht sichtbar. Der Produktionsgewinn für das neue Produkt wird mit dem Verlust für das alte Produkt nicht real verrechnet, - allenfalls statistisch erfaßt, was ökonomisch folgenlos bleibt. 5 Dadurch wird gesamtwirtschaftlich ein Verhalten ermöglicht, das wir - wegen seines zerstörerischen Charakters - im einzelnen Unternehmen niemals dulden würden.

Instrumente und Organe gesamtwirtschaftlicher Vernunft auszubilden, "Gesamtvor- und nachteile ins Auge zu fassen und zu bilanzieren, Zusammenarbeitslösungen zu finden, - das würde die mit dem Anwendungsdruck verbundenen Kurzschlußgefahren vermindern. Wir kämen zu einem sich selbst steuernden System, das seine Sicherheit von innen her gewährleisten kann, während heute der Sicherheitsschalter von außen betätigt werden muß (Tests und Kontrollen von außen als Schutz unbeteiligter Konsumenten), weil Zeit- und Kostendruck verhindern, daß von vornherein nur das Überschaubare, das Verantwortbare zugelassen wird." 6

Beruhigung, nicht Beseitigung des technischen Fortschritts

Nicht um die Beseitigung des technischen Fortschritts geht es, vielmehr um seine Beruhigung, um seine Folgen sozial und ökologisch gestaltbar zu machen. Die heutigen Bedingungen erzeugen strukturell hinsichtlich der Anwendung einen Verfrühungs-, hinsichtlich der Folgenbewältigung einen Verspätungseffekt. Demgegenüber wäre anzustreben, daß technische Erfindungen erst bei Gewährleistung eines entsprechenden Sicherheitsniveaus überhaupt freigeben werden. Gewiß: Die Entwicklungstendenzen der Gegenwart gehen in eine gänzlich andere Richtung. Doch wer deshalb das Gesagte für idealistische und utopistische Zukunftsmusik abtun wollte, hat sich nicht klargemacht, daß es zum Versuch, die Richtung der Entwicklung zu ändern, keine sinnvolle praktische Alternative gibt, wenn wir der Lage des Zauberlehrlings entrinnen wollen.

Ein Geschlecht erfinderischer Zwerge "Wofür arbeitet ihr? Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen aufzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und eure neuen Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, daß euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte. - Ich hatte als Wissenschaftler eine einmalige Möglichkeit. In meiner Zeit erreichte die Astronomie die Marktplätze. Unter diesen ganz besonderen Umständen hätte die Standhaftigkeit eines Mannes große Erschütterungen hervorrufen können. Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden. Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können." Bertolt Brecht: "Leben des Galilei"

Anmerkungen

1 So die Titelgeschichte des "Spiegel" Nr. 37/1998.
2 Vgl., a.i.f., "Der Spiegel", a.a.O.
3 Vgl., a.i.f.: Die Stellung von Forschung und Entwicklung zwischen Geistes- und Wirtschaftsleben und ihre ökologischen Konsequenzen. Zusammenfassung eines Vortrags von U. Herrmannstorfer. In: Rundbrief "Dreigliederung des sozialen Organismus", Nr. 4/1992.
4 Es ist eine entscheidende Schwache "grüner" Politik heute, daß sie über solche Bedingungen kaum reflektiert.
5 Mit einer richtigen, das heißt gesamtwirtschaftlichen Bilanzierung von Forschungs- und Entwicklungskosten wäre auch ökonomisch das Argument zu entkräften, die Wirtschaft könne sich ein "freies Geistesleben" nicht leisten.
6 Die Stellung von Forschung und Entwicklung..., a.a.O.


Erstveröffentlichung in: Die Drei. Zeitschrift für Anthroposophie in Wissenschaft, Kunst und sozialem Leben. Stuttgart. Heft 6/Juni 1999.