Über das soziale Hauptgesetz Rudolf Steiners

01.01.1998

Zur Zeit suchen 150.000 junge Menschen in Deutschland eine Arbeit. Die Arbeitslosigkeit überschreitet die 4-Millionen-Grenze. Die Krankenkassenkosten sind bis über die Grenze des Erträglichen für den Normalverbraucher gestiegen. Ein Zahnersatz kostet zur Zeit ca. DM 2000.-. Es ist abzusehen, daß die Kosten für das Kassenwesen vom einzelnen nicht mehr aufgebracht werden können. Das gilt auch für die Rentenkassen. Zur Zeit sollen noch die Renten für die Anfang Vierzigjährigen gesichert sein. Was danach kommt, weiß man nicht. Vielleicht ist sogar diese Schätzung noch sehr positivistisch.

Da scheint es an der Zeit, wieder an das von Rudolf Steiner entdeckte soziale Hauptgesetz zu erinnern.

Es gibt Epigonen Rudolf Steiners, die mit der Idee der Dreigliederung hausieren gehen, so, wie sie diese Idee sehen. Da werden neue Begriffe geprägt, was ja an sich gut sein kann. Man spricht jetzt im Zusammenhang mit den drei Bereichen des Lebens Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben von dem „Fähigkeitenwesen“, dem „Mündigkeitswesen“ und dem „Bedürfniswesen“.

In einem Kurs für Studenten einer anthroposophischen Institution wurden diese drei Begriffe wie folgt charakterisiert:

Die Dozenten haben Fähigkeiten. Sie sind somit Vertreter des Geisteslebens in der Institution. Die Studenten haben Bedürfnisse. Sie wollen von den Dozenten etwas lernen. Die Dozenten geben die Fähigkeiten an die Studenten weiter. Und außerdem müssen die Dozenten ihren Unterricht vorbereiten. Dafür haben sie ein Einkommen verdient.

Nun haben die Dozenten auch Bedürfnisse. Diese seien meist finanzieller Natur. Hier nun haben die Studenten Fähigkeiten (!). Und da das soziale Hauptgesetz besagt, daß niemand für seine Arbeit direkt bezahlt werden dürfe, zahlen die Studenten die Gebühren für das Studium nicht direkt an den Dozenten, sondern erst an die Institution und diese gibt es nun dem Dozenten. Damit sei das soziale Hauptgesetz erfüllt. Diese Dinge werden zwischen den Beteiligten verhandelt. Das ist das Mündigkeitswesen. Und das alles sei die Dreigliederung des sozialen Organismus innerhalb einer anthroposophischen Institution.

Mir zeigt dieses leider tatsächlich vorgekommene Beispiel nur, wie sehr man auch mit den sozial-anthroposophischen Begriffen jonglieren kann, nur um den status quo nicht verändern zu müssen, sondern um vorzugaukeln, man habe bereits etwas verändert.

Es wären viele Fragen zu diesem Beispiel zu stellen. Nur einige seien hier genannt.

  • Müssen Studenten sich nicht genauso auf den Unterricht vorbereiten, wie ein Dozent?
  • Studieren diese denn für sich?
  • Haben Menschen, die in Verhältnisse aufwachsen, in denen sie keine Möglichkeiten haben, Fähigkeiten zu entwickeln, die andere Menschen interessieren, keine Möglichkeit ein eigenes Einkommen zu erhalten, oder gar kein Recht darauf?

Es scheint, als sei auch in anthroposophischen Zusammenhängen der Begriff der Dreigliederung weitgehendst in Vergessenheit geraten. Es sei den anthroposophischen Dreigliederungsforschern einmal angeraten, die anthroposophischen Einrichtungen einmal nach Anti-Dreigliederung zu durchforsten. Denn Dreigliederung ist eine Idee, aber eine unter den heutigen Lebensverhältnissen verschüttete Wirklichkeit, an der sich versündigt wird.

Ein früherer Herausgeber unserer BEITRÄGE hat vor Jahren die Äußerungen Rudolf Steiners über das soziale Hauptgesetz einmal zusammengestellt. Er schrieb:

„Wenn man sich intensiv mit dem Werk Rudolf Steiners auseinandersetzt, muß man leider feststellen, daß seine Schüler nicht nur mit den Inhalten ungenau umgehen, sondern auch mit den formalen Fakten. Wann ist das soziale Hauptgesetz zum ersten Mal dargestellt worden? Rudolf Steiner wußte es selbst später nicht mehr genau. ‚Etwa 1905‘ trägt er am 29.08.1922 vor. Am 23.06.1907 nennt er die Nummern 30, 32 und 34 der Zeitschrift ‚Lucifer-Gnosis‘. Das stimmt nachweislich nicht. Zum Zeitpunkt der Vortrages war das Heft Nr. 34 noch gar nicht erschienen. Wie es zu diesem Fehler kam, will ich nicht untersuchen, schlimmer scheint mir, daß er in den Hinweisen von den Herausgebern nicht berichtigt wird. Die drei Aufsätze zum sozialen Hauptgesetz erschienen in den Nrn. 29 (Oktober 1905), Nr. 30 (November 1905) und Nr. 32 (Herbst 1906). ... Was ... weniger bekannt ist, Rudolf Steiner hat bis 1908 in mehreren öffentlichen Vorträgen auf die Bedeutung dieses Gesetzes hingewiesen, daß wie ein Naturgesetz neben allerlei anderen Gesetzen des menschlichen Zusammenlebens aufzufassen ist.“(1)

Der Verfasser gibt dann „die mir aus Nachschriften bekannten Äußerungen Rudolf Steiners“ zu dem Gesetz an. Diese seien hier nochmals zusammengestellt.

Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr. 88, S. 20-23 (1985)
GA 93a (1976), 31.10.1905
GA 100 (1967), 23.06.1907, S. 92
GA 54 (1966), 02.03.1908, S. 95-102
GA 56 (1965), 12.03.1908, S. 246-251
GA 135 (1959), 21.02.1912, S. 65/66
GA 185a (1963), 24.11.1918, S. 213-215
GA 186 (1979), 30.11.1918, S. 48-53
GA 186 (1979), 14.12.1918, S. 234-236
GA 328 (1977), 12.02.1919, S. 88-91
GA 329 (1985), 09.04.1919, S. 170-173
GA 340 (1965), 26.07.1922, S. 40-49
GA 305 (Sonderdruck 1979) 29.08.1922, S.59-61

Diese Liste enthält nicht die Bände, die seit ca. 1986 erschienen sind. Dennoch erscheint sie uns noch immer wichtig als Einstieg in die Frage, was denn nun eigentlich mit dem „sozialen Hauptgesetz“ gemeint ist

Eine der Formulierungen, mit denen Rudolf Steiner das soziale Hauptgesetz beschreibt, lautet wie folgt:

„In einem sozialen Zusammenleben muß der Antrieb zur Arbeit niemals in der eigenen Persönlichkeit des Menschen liegen, sondern einzig und allein in der Hingabe für das Ganze. - Das wird auch öfter betont, aber niemals so verstanden, daß man sich klar ist, daß Elend und Not davon kommen, daß der einzelne das, was er erarbeitet, für sich entlohnt haben will. Wahr ist es aber, daß wirklicher sozialer Fortschritt nur möglich ist, wenn ich dasjenige, was ich erarbeite, Im Dienste der Gesamtheit tue, und wenn die Gesamtheit mir selbst dasjenige wiedergibt, was ich nötig habe, wenn, mit anderen Worten, das, was ich arbeite, nicht für mich selber dient. Von der Anerkennung dieses Satzes, daß einer das Erträgnis seiner Arbeit nicht in Form einer persönlichen Entlohnung haben will, hängt allein der soziale Fortschritt ab.“ (2)

Anmerkungen

(1) Aus: Reinhard Giese: Das soziale Hauptgesetz im Werk Rudolf Steiners. Priv. Vervielfältigung. Rabel o.J.
(2) Rudolf Steiner: Vortrag vom 02.03.1908. In: GA 54 (1966). S. 99


Veröffentlichung

Beiträge zur Dreigliederung, Anthroposophie und Kunst, Heft 46.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autoren.