Rudolf Steiner und die Überwindung des Nationalismus

Eine Biographie

01.08.1997

Die bisherigen Ausführungen über den Nationalismus könnten für sich stehen. Mir ging es darum, die verstreuten Aussagen Steiners in einen Zusammenhang zu bringen. Dem Betreuer meiner Arbeit, Ekkehart Krippendorff, war mein Ansatz aber viel zu abstrakt. Er wünschte sich lieber eine Biographie Steiners, die ohne viel Theorie zeigen würde, daß er kein Nationalist gewesen sei. Das wäre ein Leichtes gewesen. Mir ging es aber nicht bloß darum, die Ehre Steiners zu retten, sondern auch zu zeigen, was die Welt braucht, um sich vor dem Nationalismus retten zu können. So kam es, daß ich monatelang an den Rest dieser Arbeit herumfeilte und dann – erst ein paar Tage vor Abgabefrist – noch schnell die von Krippendorff gewünschte Steiner-Biographie aufs Papier brachte.

Bei dieser „Auftragsarbeit“ kam mir zugute, daß ich mir immer wieder die Frage gestellt hatte, wann Steiner die von mir aufgezeigten Ideen zum ersten Mal ausspricht. Es wurden daher in den vorigen Kapiteln viele Stellen aus seinem Frühwerk herangezogen. Dadurch wurde eines deutlich: Steiner hat nicht auf November 1918, auf den Beginn seines öffentlichen Eintretens für die soziale Dreigliederung gewartet, um den Nationalismus in Frage zu stellen. Vorher bleibt es aber vielfach bei Andeutungen, die leicht mißverstanden werden können – und auch oft mißverstanden worden sind. Wer sich da orientieren will, muß Steiner sozusagen rückwärts lesen, also das spätere Werk nutzen, um seine früheren Aussagen zu beleuchten.

Man kann sich aber fragen, warum Steiner solange braucht, um seine Ideen auf den Punkt zu bringen. Liegt es etwa an seiner eigenen inneren Entwicklung oder an äußeren Umständen? Hier können die folgenden biographischen Angaben weiter helfen.

Österreich-Ungarn und das Problem der Nationalitäten

Steiner ist 1861 in Kraljevec geboren. Im chronologischen Lebensabriß der Herausgeber am Ende seiner Werke stand 1994 noch „damals Österreich-Ungarn, heute Jugoslawien“. Dieses „heute“ ist inzwischen schon wieder überholt. Dieser Umstand sagt einiges über die Jugend von Steiner aus. Er hat in einem Staat gelebt, der mit seinen vielen Kulturen nicht zurechtgekommen ist. Auf diese Erfahrung beruft er sich später. Daran soll sich die Notwendigkeit einer sozialen Dreigliederung zeigen. Zu dem Zeitpunkt bleibt es aber „beim Beobachten der außerordentlich komplizierten Verhältnisse.“

Seine persönliche Wahl geht eindeutig zur deutschen Kultur. Julius Schröer, einer seiner Lehrer, macht ihn ab 1879 auf den literarischen Goethe aufmerksam. Steiner siedelt dann 1890 nach Weimar über, um den naturwissenschaftlichen Goethe herauszugeben. Inzwischen ist er überzeugt, daß der Mensch physiologisch dreigegliedert ist. Die Kopforganisation ist nicht das Zentrum des Menschen überhaupt. Es ist nur das Zentrum des Denkens. Fühlen und Wollen lassen sich daraus nicht erklären. Das Fühlen hat seinen Ursprung in der Atmungs- und Zirkulationsorganisation. Das Wollen entsteht aus der Gliedmaßen-Organisation. Der Mensch besteht aus diesen drei eigenständigen Organisationen.

Wenn Steiner später im positiven Sinne von „sozialem Organismus“ spricht, dann macht er es aus einer ähnlichen Überzeugung. Das soziale Leben läßt sich nicht mehr aus einer einzigen zentralen Organisation heraus gestalten. Es muß stattdessen dreigegliedert werden. Organismus heißt also hier das Gegenteil von Zentralismus. Zu dieser politischen Idee konnte aber Steiner erst dann kommen, nachdem er sich an der menschlichen Anatomie geübt hatte.

Steiner braucht noch über dreißig Jahre, um seine Idee einer menschlichen Dreigliederung auszuarbeiten.Um auch auf die Idee einer sozialen Dreigliederung zu kommen, muß er sich aber erst einmal für soziale Fragen interessieren.

Schon vor seiner Übersiedlung nach Weimar spricht sich Steiner für eine kulturelle Zusammenarbeit aller Deutschen aus. Er hat noch als Kind die politische Feindschaft zum Deutschen Reich erlebt. Sie darf hier aber keine Rolle spielen. Daran zeigt sich schon, wie Steiner nicht alle soziale Fragen in einen Topf werfen will. Darin ist er sich mit Schröer einig, beruft sich sogar auf ihn. Mit Schröer teilt er auch dieselbe Auffassung der Volksseele. Sie ist ihnen keine abstrakte Idee, sondern ein wirkliches geistiges Wesen. Es wirkt auf die Menschen, die zu ihm gehören.Die Volksseele bleibt eine abstrakte Idee, solange nur auf die gemeinsamen Eigenschaften dieser Menschen geschaut wird. Sie wird aus ihren Gemeinsamkeiten extrahiert, abstrahiert. Steht die Volksseele für sich, so fällt die Fixierung auf solche Gemeinsamkeiten weg. Dieselbe Volksseele kann sich unter verschiedenen Umständen unterschiedlich auswirken. Besonders interessant wird das Zusammenwirken mit anderen Volksseelen. Schröer hat nicht umsonst verschiedene deutsche Mundarten erforscht. Er wollte wissen, was aus der deutschen Sprache wird in slawischen, magyarischen und italienischen Gegenden.Diese Beschäftigung mit den verschiedenen Volksseelen Österreichs hat Folgen. Jetzt fängt Steiner an, sich für „die öffentlichen Zustände“ wirklich zu interessieren.

Steiner engagiert sich dann auch politisch. Die ersten Opfer seiner Kritik sind 1888 die deutschen Verfassungsliberalen. Mit der Freiheit des Individuums können sie noch weniger anfangen als die Klerikalen. Das ganze Schul- und Hochschulwesen bevormunden sie durch Unmengen von Paragraphen.Seine Haltung zu den Deutsch-Nationalen ist dagegen zwiespältig. Er lehnt sie nicht grundsätzlich ab. Sie dürfen sich nur nicht wie die Slawen und die deutschen Bauern auf ihre Abstammung berufen und mit den Klerikalen paktieren. Sie verraten sonst ihre eigene nationale Idee. Sie geben ihren Anspruch auf Bildung und religiöse Freiheit auf.

In Weimar trifft Steiner auf eine ganz andere Art der Internationalität als in Österreich. Hier verkehren Menschen aus der ganzen Welt. Sie interessieren sich für Goethe und sein Umfeld. Dort begegnet er auch Herman Grimm. Dieser glaubt, daß Amerika durch seine deutschen Einwanderer immer deutscher wird. Vor dieser Illusion wird Steiner durch seine Erfahrungen in Österreich bewahrt. Deutsche gehen immer mehr in den anderen Kulturen auf. Herman Grimm sei selber das beste Beispiel dafür. Seinen Schreibstil verdanke er einem amerikanischen Schriftsteller.

Antisemitismus und Nationalismus als Erniedrigung des Geistes

Bei seiner Übersiedlung nach Berlin übernimmt Steiner 1897 eine Zeitschrift, die er wiederholt benutzt, um sich gegen Antisemitismus und Nationalismus einzusetzen.

An Friedrich Paulsen zeigt Steiner, wie man durch den Historismus lau gegen den Antisemitismus werden kann. Der Historismus könne sich nicht vorstellen, daß die Juden dabei seien, ihre nationale Vergangenheit zu überwinden. Steiner setzt dem entgegen, daß man sich durch zeitgenössische Juden eines Besseren lehren lassen kann.

Für Dreyfus, der als Jude im damaligen Frankreich perfekt zum Sündenbock taugt, setzt sich Steiner nicht aus persönlicher Sympathie ein. Als bornierter Chauvinist sei ihm Dreyfus eher zuwider. Dieser Charakterzug zeuge aber gerade von seiner Unschuld. Mit seiner Einschätzung, daß Dreyfus Frankreich nicht verraten habe, lege also Emile Zola richtig. Heutige Staatsverfassungen seien aber leider so, daß Richter keine Psychologen sein können. An dieser letzten Bemerkung zeigt sich, wie Steiner nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg, sondern schon damals über die übliche Lehre der Gewaltenteilung hinausgeht. Ihm ist die Einsetzung der Richter auf Lebenszeit nicht der richtige Weg zu ihrer Unabhängigkeit.

Auch Steiners Haltung zum Nationalismus wird klarer. Theodor Mommsen habe die Deutschen Österreichs zur Einigkeit aufgerufen. Dieser Einigkeit wisse er aber keinen Inhalt zu geben. Die Verteidigung der deutschen Nationalität werde scheitern, solange sie Selbstzweck sei. Die Deutschen sollen sich einig werden über eine Verfassung, die unter anderem das Zusammenleben mehrerer Nationalitäten ermögliche. Erst dann können sie wieder eine politische Bedeutung bekommen. Zu gut deutsch: Der deutsche Nationalismus macht erst dann Sinn, wenn er darin besteht, den Nationalismus zu überwinden. Dies erklärt manche scheinbare Widersprüche in Steiners früheren Aussagen zu den Deutsch-Nationalen in Österreich.

Die Zeitschrift verliert aber so viele Abonnenten, daß sich Steiner 1900 zurückziehen muß. Steiner erwähnt später die Begründung eines Universitätsprofessoren, um sie abzubestellen.

„Hierdurch bestelle ich das „Magazin für Literatur“ ein für allemal ab, da ich ein Organ, das für den sein Vaterland verratenden Judensöldling Emile Zola eintritt, nicht in meiner Bibliothek dulden mag.“

Im deutschen Bürgertum, insbesondere im Bildungsbürgertum, waren Antisemitismus und Nationalismus leider schon damals stark verankert.

Die Internationale der Arbeiter und Theosophen

In Berlin treten zwei Kreise an Steiner heran: Die Arbeiter 1899 und die Theosophen 1902. Ein stärkerer Kontrast läßt sich kaum finden. Sie treffen sich nur in ihrer internationalen Gesinnung. Gerade hier knüpft Steiner an.

In der Berliner Arbeiterbildungsschule hält er Vorträge über Universalgeschichte. Er leitet sie aber nicht aus der Wirtschaftsgeschichte ab. Was er bietet ist eine Geschichte der Fortschritte und Rückschläge der Freiheit. Er kommt aber nicht weiter als bis zum Mittelalter. Den marxistischen Führern ist seine Freiheit ein Dorn im Auge. Trotz der Unterstützung der Arbeiter muß er 1904 gehen. Kurz darauf macht er sein Anliegen klar. Das Mittelalter enthält viele Ansätze zur wirtschaftlichen Brüderlichkeit. Sie sind durch den Zentralismus des Staates und der Kirche zerschlagen worden. Was zu dieser zentralistischen Rechtslehre geführt hat, ist die geistige Unfreiheit. Ohne geistige Freiheit wird auch die Arbeiterbewegung ihre wirtschaftliche Brüderlichkeit verfehlen. Sie wird den Nationalismus nicht überwinden, sondern weiterführen.

Die Theosophen versucht er dagegen für die sozialen Fragen zu interessieren. Er muß nicht gehen, findet aber damit überhaupt kein Echo. Seine Aufsätze über wirtschaftliche Arbeitsteilung muß er 1905 einstellen. Sie sind reine Papierverschwendung gewesen. Auch seine Warnung vor der krankhaften Tendenz zur weltweiten Überproduktion geht 1914 ins Leere. Steiner muß sich also auf die theosophische Nachfrage einstellen. Für Theosophen gilt aber die Devise: Je älter, je höher die Weisheit. Von Steiner erwarten sie also, daß er ihnen die Heiligen Schriften interpretiert. Damit scheint die Frage des Nationalismus in den Hintergrund zu treten. Dies ist aber nicht ganz der Fall. Steiner betont den Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Besonders klar wird es 1908 bei seiner Besprechung des Johannes-Evangeliums. Hier vertritt Christus das Individuum gegen die alttestamentlichen Blutsbande. Nur dieses Individuum kann zum Geist finden, der ihn mit der ganzen Menschheit verbindet. Hier greift er die Idee wieder auf, die schon 1894 im Mittelpunkt seiner Philosophie der Freiheit gestanden hat. Zum Christus kommt es durch eine Synthese der bisherigen Kulturen. Was zusammengetragen wird, sind aber nicht ihre Gemeinsamkeiten. Stattdessen finden ihre Unterschiede zusammen. Auch dieses Ideal hat Steiner schon 1892 ausgesprochen. Die Neigung der Theosophen für alte aber auch fremde Kulturen bietet hier einen Anknüpfungspunkt.

Steiner zeigt also Auswege aus dem Nationalismus. Die Arbeiterführer lehnen aber die individuelle Freiheit ab. Die Theosophen interessiert die wirtschaftliche Brüderlichkeit nicht. Für die Idee der sozialen Dreigliederung fehlt es an einem allseitig interessierten Publikum. Steiner kommt daher nicht dazu, seine sozialen Ideen in ihrem Zusammenhang darzustellen.

Steiner versucht 1910 noch einmal, das soziale Interesse der Theosophen zu erweitern. Diesmal spricht er aber nicht von Wirtschaft. Als Thema nimmt er sich die Volksseelen vor. Die Theosophen sollen sich dabei von der Notwendigkeit einer sozialen Dreigliederung überzeugen können. Dieser neue Versuch schlägt aber auch fehl. Seine Ausführungen über Volksseelen werden kaum aufgegriffen. In dieser Arbeit sind sie auch unberücksichtigt geblieben. Das hat aber einen anderen Grund. Die Idee der Volksseele braucht zum Ausgleich den Gedanken der Reinkarnation. Bei Theosophen konnte Steiner mit diesem Gedanken rechnen. Mir war es aber wichtig, ohne die Reinkarnation auszukommen. Ich mußte daher auch auf die Volksseelen verzichten. Sie sind aber dafür entscheidend, wie Steiner selber zu seinen Antworten auf den Nationalismus kommt. Sein Interesse für soziale Fragen verdankt er nämlich der Beschäftigung mit den Volksseelen.

Es fragt sich nur, wie man von den Volksseelen auf die soziale Dreigliederung kommen soll. Bei Steiner heißt es 1910:

„Es ist von einer besonderen Wichtigkeit [...], daß gerade in unserer Zeit in unbefangenster Weise auch gesprochen wird über dasjenige, was wir die Mission der einzelnen Volksseelen der Menschheit nennen [...], weil die nächsten Schicksale der Menschheit in einem viel höheren Grade als das bisher der Fall war, die Menschen zu einer gemeinsamen Menschheitsmission zusammenführen werden.“ (Hervorhebung und Auslassungen von Steiner)

Beim „Zusammenführen“ haben wahrscheinlich nur wenige Theosophen an die Tendenz zur Weltwirtschaft gedacht. Zur „Unbefangenheit“ gehört, daß Steiner den Osten anerkennen kann. Dort wirken noch Reste alter Hochkulturen nach. Das entspricht durchaus dem theosophischen Geschmack. Steiner lenkt aber auch den Blick auf die europäischen Volksseelen. Er erwähnt zum Beispiel die Weltmission der Engländer. Das ist den Theosophen wahrscheinlich zu modern gewesen.

Im Januar 1918 hat Steiner ein Gespräch mit Max von Baden. Dieser zeigt sich interessiert an einer Psychologie der Völker. Steiner läßt darauf seine Vorträge von 1910 drucken und schickt ihm ein Exemplar. Später wirft er Max von Baden vor, nicht daraus auf die Notwendigkeit einer sozialen Dreigliederung geschlossen zu haben. Dasselbe müsste ich mir vorwerfen: Darauf wäre ich, obwohl ich diese Vorträge schon lange vor meiner Entdeckung der Aussagen Steiners zur sozialen Dreigliederung durchgelesen habe, wahrscheinlich nie selber gekommen. Steiner erklärt hier aber endlich, wie er es gemeint hat.

Im Westen hat man damals von den östlichen Kulturen noch wenig gehalten. Man hat sich für die eigentliche Kultur gehalten. Der Osten ist wegen seiner technischen Rückständigkeit verachtet worden. Westler haben es aber eigentlich bisher zu kaum mehr als einer Wirtschaft gebracht. Sie wollen zum Osten nur wirtschaftliche Beziehungen aufnehmen. Sie werden deswegen im Osten verachtet. Das stimmt auch dort, wo ihre Technik übernommen wird. Was daraus folgt ist klar. Wird nicht zur sozialen Dreigliederung geschritten, so schlägt die Verachtung in Krieg um. Zwischen den Fronten werde dann Mitteleuropa stehen.

Mit seiner Völkerpsychologie will Steiner aber nicht nur auf die Probleme der zukünftigen Globalisierung verweisen. Er betont immer wieder, daß es gefährlich ist, von Volksseelen zu sprechen, ohne auch den Gedanken der Reinkarnation dazu zu nehmen. Jeder Mensch macht mehrere Volksseelen durch. Entweder gleichzeitig durch eine bewußte Auseinandersetzung mit anderen Kulturen, oder zumindest nacheinander durch seine Wiederverkörperungen. Hier liegt die Grundlage für jeden Individualismus. Der Mensch ragt aus dem einen Volk, so wie er aus dem einen Leben herausragt. Jeder Mensch, der darauf eingeht, wird zu einer kulturellen Minderheit. Dem kann das Geistesleben nur dann Rechnung tragen, wenn es kompromißlos auf individuelle Freiheit setzt. Diese Freiheit gehört daher zu den Hauptanliegen der sozialen Dreigliederung.

Im März 1913 wird Steiner aus der Theosophischen Gesellschaft ausgeschlossen. Für die Theosophen, die sich für ihn weiter interessieren, wird eine Anthroposophische Gesellschaft gegründet. Die Theosophen werden zu Anthroposophen. Geblieben ist der Mangel an Interesse für soziale Fragen.

Gedanken und Memoranden während des Weltkrieges

Während des Ersten Weltkriegs zeigt sich, dass die Internationale der Anthroposophen dem Druck der öffentlichen Meinung nicht gewachsen ist.

In seinen Vorträgen ruft Steiner 1915 zu einer Rückbesinnung auf das Beste der deutschen Kultur auf. Seine Deutschen mißt er an Goethe. Hier bleibt er kompromisslos. Er will sie aber nicht klein machen, sondern ermutigen. Es klingt dann oft so, als ob die real existierenden Deutschen schon so weit wären. Sie müssen sich nur darüber bewußt werden, was sie eigentlich sind. Im Rückblick stellt Steiner fest, dass es ihm nicht gelungen ist, sein Publikum zur Gesinnung zu bringen. Stattdessen werden die Nachschriften später ein gefundenes Fressen für selbstzufriedene Deutsche. Sie brauchen nur einige barsche Kritiken zu überlesen, und schon wird Steiner zum bedingungslosen Anwalt Deutschlands.

Mit seinem Buch „Gedanken während der Zeit des Krieges. Für Deutsche und solche, die nicht glauben, sie hassen zu müssen“ versucht Steiner sich auch an das Ausland zu wenden. Er muss aber feststellen, dass dort nur diejenigen das Buch aufgreifen, die glauben, Deutsche hassen zu müssen. Dazu gehört Édouard Schuré, ein französischer Anthroposoph und Nationalist, der Steiner Pangermanismus vorwirft. Er unterstellt Steiner also, alle Deutschsprachigen in einen Staat vereinigen zu wollen. Dieser Vorwurf, der ihm als Autor damals viel Ruhm bringt, wirkt in Frankreich bis heute nach. Dem widerspricht allerdings nicht nur, was Steiner später vertreten wird, sondern auch seine früheren Aussagen zu Österreich als Zufluchtsort der deutschen Kultur nach dem Rausch der industriellen Revolution im Deutschen Reich.

Im Mai 1917 wird Steiner von einem deutschen Diplomaten um Rat gebeten. Erstmals kann er seine sozialen Ideen nicht nur einzeln, sondern im Zusammenhang darstellen. Im Juli 1917 verfaßt er ein Memorandum für Mitglieder der deutschen und österreichischen Regierungen. Die Idee einer sozialen Dreigliederung ist darin zum ersten Mal deutlich zu erkennen. Das Memorandum wird von diesen Regierungen aber entweder gar nicht verstanden, oder im entscheidenden Moment vergessen.

Dreigliederungszeit und Überwindung der Nationalökonomie

Die Novemberrevolution 1918 und die Betriebsrätebewegung im Frühjahr 1919 geben der sozialen Dreigliederung eine neue Chance. Mit seiner sozialen Dreigliederung stößt Steiner aber bei seinen Anhängern meistens auf taube Ohren. Es gelingt aber weder die Vernetzung der Wirtschaftsräte, noch ihre Ergänzung durch einen internationalen Kulturrat. Mehr Glück hat die Initiative zur Gründung einer freien Schule. Im ersten Gespräch mit Herbert Hahn wird deutlich, dass Steiner sich von der späteren Waldorfpädagogik auch einen Beitrag zur Völkerverständigung verspricht.

Bei der Abstimmung in Oberschlesien geht es Steiner 1921 darum, ein Zeichen zu setzen. Oberschlesien soll weder deutsch noch polnisch werden, sondern durch eine soziale Dreigliederung ein friedliches Zusammenleben dieser beiden Kulturen möglich machen. Die Initiative hat insofern Erfolg als die deutschen Nationalisten in Steiner einen Gegner erkennen. Hitler selbst wird darauf aufmerksam und tut den Ansatz Steiners als „Zerstörung der normalen Geistesverfassung der Völker“ ab. Leider hat Steiner zu wenig Mitstreiter, um die Zerstörung, die von dieser angeblich normalen Geistesverfassung ausgehen, wirksam zu bekämpfen.

Da die Idee der sozialen Dreigliederung sich nach dem Ersten Weltkrieg nicht verbreiten konnte, so soll sie wenigstens vertieft werden. Steiner geht daher 1922 auf den Wunsch von Studenten nach einem Kurs über Nationalökonomie ein. Statt der Nationalökonomie behandelt er aber die Weltökonomie. Seine Philosophie der Freiheit ergänzt er damit um eine Philosophie der Brüderlichkeit. Steiner bleibt dabei nicht bei einer Wissenschaft der Weltwirtschaft, sondern aus der Wirklichkeit der Weltwirtschaft ergibt sich für ihn die Forderung nach einer vollständigen Entstaatlichung des Geldes. In dieser Frage stößt Steiner noch hundert Jahre später bei den meisten Vertretern einer sozialen Dreigliederung auf taube Ohren.

Sylvain Coiplet

Stand: 26.06.2020

Das Buch „Die Überwindung des Nationalismus“Nationalismus

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Die Überwindung des Nationalismus“, das 1997 verfasst wurde und seitdem ständig überarbeitet wird. In der Druck- und PDF-Version des Buches befinden sich auch die Fussnoten und Quellenangaben.

Sylvain Coiplet Die Überwindung des Nationalismus