Wie funktioniert freies Geistesleben? - Eine Replik I

01.09.1994

Zum Beitrag Wie funktioniert freies Geistesleben? von Christoph Lindenberg in Heft 6/94, S. 486-489

In seinem Beitrag zur Frage, wie freies Geistesleben funktioniere, schildert Christoph Lindenberg Bedingungen für dessen Entfaltung, wobei er als erstes das Individuum als »Einfallstor geistiger Produktivität« im Anschluß an Rudolf Steiners Ausführungen in der Philosophie der Freiheit setzt. Anerkennung und Förderung des anderen, individuell schöpferischen Menschen zeigen erst, wie souverän der anerkennende Beobachter ist. - »Bestimmten« Korporationen (welche sind das?) mit einer personalen Ordnung werden Satzungen, Geschäftsordnungen, Verfahrensregeln durchaus zugestanden, aber »auf sie komme es letztlich nicht an«. Selbstverständlich darf es sich bei solchen Vereinbarungen doch niemals um eine »verfassungsmäßige Regelung des geistigen Lebens« handeln; sondern es kann nur um die Frage gehen, wie sich das Rechtsempfinden in Verabredungen unter beteiligten Menschen spiegelt, wenn Individuen miteinander verkehren. 1 Sind gegenseitige Verletzungen nur eine Frage des Takts? Der Narr und das Genie mögen den rechten Gebrauch ihrer Freiheit machen; das geschieht, wenn sie uns der Wahrheit näherbringen, die wir noch nicht erkannt haben. Es gibt aber auch die »geistigen Rechthaber«, die »so frei sind«, ihre vermeintlichen Einsichten herauszukrähen oder andern aufschwatzen zu wollen.

Weil Christoph Lindenberg in dem Abschnitt Personale Ordnung den Vortrag Rudolf Steiners vom 14. April 1919 heranzieht, dem er das Zitat vom »Individualismus auf geistigem Felde als bedeutsamstem Zeitimpuls« entnimmt, seien hier einige Ergänzungen auf Grund dieses Vortrags gemacht, um die Spannweite des Themas zu vergrößern. Dafür, daß es aufgegriffen wurde, gebührt Christoph Lindenberg Dank, und daß es »zur Diskussion gestellt wird«, weist wohl darauf hin, es werde nicht so schnell ausgereizt sein.

Der Vortrag wird in einem welthistorischen Augenblick gehalten: Rudolf Steiner hat die Kernpunkte der sozialen Frage geschrieben und kümmert sich um die Fertigstellung des Buches. Nach dem Vortrag vom 14. April erfolgt offensichtlich aus diesem Grunde bis zum 19. April, an dem er in Dornach eine Abschiedsansprache hält, keine weitere mündliche Darstellung. Mit der Ankunft in Stuttgart am 20. April beginnt der Einsatz Rudolf Steiners für die Dreigliederung des sozialen Organismus. 2 In einer Diskussion am 3. Januar 1922 3 spricht Rudolf Steiner dann aus, daß das allgemeine Bewußtsein vom Zusammenbruch des ökonomischen, des staatlichen und des geistigen Lebens »durch ein halbes Jahr« vorhanden war; »etwa bis zur Mitte des Jahres 1919« sei »das absolute Bewußtsein [dafür] vorhanden« gewesen. Augenscheinlich ist aber das Bewußtsein bei manchen Anthroposophen noch nicht erwacht gewesen. Und so wird am 14. April von den Betrachtungen zur sozialen Frage gesagt, daß die sozialen Bestrebungen »nicht etwa nur eine Art Nebenströmung« seien »neben dem, was pulsiert in unserem ganzen geisteswissenschaftlichen Leben«. Bisher habe man ein guter Geisteswissenschaftler sein können, ohne sich um das zu kümmern, was draußen vorgegangen sei. »Gute Anthroposophen« hätten ungeheuer viel gewußt von kosmischer Entwicklung, Gliederung des Menschen usw., aber von der »Wirklichkeit des Lebens« keine Ahnung gehabt; in der Anthroposophie gerade etwas gesucht, »um sich von der Wirklichkeit des Lebens fernzuhalten«. Es müsse sich nun zeigen, ob man sich für »klares, vorurteilsloses, unsentimentalisches Auffassen« dessen, was mit den Kernpunkten der sozialen Frage zusammenhängt, reif gemacht habe. »Das wird dasjenige sein, worüber wir jetzt eine gewisse Probe werden zu bestehen haben.«

Sektiererei liegt gerade darin, daß man versucht, etwas, was man der Welt schuldet, für sich - in »geschlossenem Kreis« - zu halten. Cliquenwesen zeigt sich, wo man z. B. mit denen etwas treiben will, die einem »gerade geisteswissenschaftlich nahestehen«, und noch meint, objektiv zu sein.

Das freie Geistesleben in der Anthroposophischen Gesellschaft wird von Rudolf Steiner darin gesehen, daß sie unabhängig von jeglicher staatlicher oder politischer Organisation ist, keine Subventionen erhält. ... Für die Individualität aber gilt, daß nur für sie die Wahrheiten sind. Die Individualität muß darum ringen; sie fallen nicht vom Himmel. Zu den Wahrheiten gehört das Verständnis, daß es keine »leichtherzige Theorie« sei, »wenn man über den Charakter der Ware redet [...], etwas, was nur gesagt werden darf, wenn man es immer wiederum als das Charakteristische im wirklichen Leben erkannt hat«. - Im Blick auf eine Buchproduktion, die keinen Absatz findet, also eine überflüssige Ware ist, heißt es: »Aus bloßer menschlicher Vorliebe heraus sollte nicht einmal die Wahrheit produziert werden!« Der Geist müsse in der Lage sein, »wirklich in das praktische Leben unterzutauchen«.

Die Freiheit des Einzelnen liegt in seiner Fähigkeit, Intuitionen aus der einigen Ideenwelt zu haben, aber dann sind sie »objektiv«, unterliegen nicht einem ich meine, ich bin der Ansicht. 4 Der Prüfstein liegt in der Praktikabilität für eine menschengerechte Welt; darin, daß Menschen da sind, kompetent genug, aus ihnen Leben zu gestalten, 5 weil es darauf ankommt, »das Leben da anzufassen, wo es anzufassen ist«. Eine geistige (anthroposophische) Gesellschaft hat nach Rudolf Steiner die Aufgabe, »Kern [zu] sein für alles Gute, das über die Menschheit kommen soll«, ausströmen zu lassen einen »weiten Strom von Aufklärung über soziale Notwendigkeiten«. Am 1. Februar 1916 6 zitiert Rudolf Steiner inhaltlich seine Philosophie der Freiheit: »Die freien Impulse gehen aus der geistigen Welt aus.« Und er fügt hinzu: »Das schließt aber nicht aus, daß der Mensch gerade dann gewissermaßen am freiesten handelt mit Bezug auf gewisse Geschehnisse, wenn er ganz besonders der Notwendigkeit wiederum folgt.«

Seit 1919 sind 75 Jahre vergangen. Was müssen wir heute tun, um zu erkennen, wo die Not der Zeit am größten ist, um zu helfen aus geistigen Impulsen, die individuell gefunden werden müssen, in denen wir uns aber aus individueller Anstrengung finden können, um, wiederum individuell, menschliche Gesellschaft zu gestalten, die nicht nur ein freies Geistesleben hat, sondern in der freie Wesen auch noch gerecht miteinander umgehen, vielleicht sogar schwesterlich-brüderlich?

Fußnoten

1 Siehe R. Steiner, Die soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitlage (GA 186), Vortrag vom 15.12.1918. Dort ist von der Anthroposophischen Gesellschaft als »dem geistigen Drittel« unserer sozialen Struktur gesprochen; dies könnte das Juristische einschließen. »Denn was als Recht von Individuum zu Individuum eigentlich unter Anthroposophen herrschen sollte, das sollte eine selbstverständliche Sache sein« (S. 262).
2 Siehe Chr. Lindenberg, Rudolf Steiner. Eine Chronik.
3 Siehe R. Steiner, Die gesunde Entwicklung des Leiblich-Physischen als Grundlage der freien Entfaltung des Seelisch-Geistigen (GA 303).
4 Im Vortrag vom 14. April 1919 werden auf den ersten Blick geradezu Paradoxien für den Verstand gegeben, wie nämlich der »Individualismus auf geistigem Felde« gerade nicht den häufigen Gebrauch des Wortes ich ausmacht; Redeweisen dieser Art werden sogar mit Leiden im physischen Leib zusammengebracht.
5 »...ein Bankdirektor, der den Aufruf [» An das deutsche Volk und an die Kulturwelt! «] wirklich versteht und in seinem Sinne wirkt, ist mehr wert als zehn Schriftsteller, die ihren Namen daruntersetzen.« Da ist nichts gemildert ...
6 Siehe R. Steiner, Notwendigkeit und Freiheit im Weltengeschehen und im menschlichen Handeln (GA 166).

kommentar

Sylvain Coiplet

Friedhelm Dörmann geht davon aus, daß das Geistesleben noch in sich dreigegliedert ist. Zum Rechtlichen rechnet er wie Christof Lindenau und Dieter Brüll alles, was mit Vereinbarungen zu tun hat. Da Vereinbarungen auch im Geistesleben unumgänglich sind, folgert Dörmann daß das Geistesleben auch einen rechtlichen Teil hat, der nicht nach dem von Christoph Lindenberg befürworteten individuellen Prinzip funktionieren kann. Dabei verweist er auf eine Stelle bei Rudolf Steiner, die eigentlich genau das Gegenteil von dem meint, was Dörmann ihr sagen lassen will. Wenn Rudolf Steiner von der Anthroposophischen Gesellschaft verlangt, daß sie « in einem gewissen Sinne wenigstens, das eine Drittel unserer sozialen Struktur, wie sie aus der Anthroposophie selbst folgt, das geistige Drittel, selbst mit Einschluß des juristischen, musterhaft charakterisieren » soll, meint Steiner nicht, daß diese Anthroposophische Gesellschaft zum Teil auf das individuelle Prinzip verzichten soll. Im Gegenteil soll sie es schaffen, dem Staat die richterliche Tätigkeit abzunehmen, indem Anthroposophen sich einen individuellen Richter auswählen. Dem demokratischen Staat soll also eine Tätigkeit abgenommen werden, die nur individuell gelöst werden kann. Zum Weiterlesen:
Anthroposophen sollen zur Wahl des eigenen Richters schreiten GA186, S.247+262-3, 3/1990, 15.12.1918, Dornach
Richten keine Staatsaufgabe GA 23, S.109-111, 6 /1981, 1919


Quelle: Die Drei, 9/94, S.718-720