Die Dreigliederungsbewegung 1919 - Rätebewegungen

01.01.1991

Auszug aus Albert Schmelzer: Die Dreigliederungsbewegung 1919 - Rudolf Steiner Einsatz für den Selbstverwaltungsimpuls, 1991, Stuttgart

VII. Die zweite Phase: Organischer Aufbau

Die Bedingungen für die Antwort auf die Herausforderung, eine klare Strategie zu entwickeln und die bisher eher kulturorientierte, auf Bewußtseinswandel zielende Dreigliederungsbewegung in eine im engeren Sinne politische, um Machtpositionen kämpfende Bewegung umzuwandeln, wurden den Verantwortlichen durch die württembergischen Verhältnisse vorgegeben. Nachdem bei der Regierung, bei Industriellen, in der Sozialisierungskommission und selbst im Arbeiterrat die Versuche mißlungen waren, an Bestehendes anzuknüpfen, blieb nur der «organische Aufbau» einer eigenen Alternative - zunächst im ökonomischen und kulturellen Bereich. Diesem Ziel dienten die Betriebsräte - und die Kulturratsbewegung. Durch die Wahl von Betriebsräten und ihre Zusammenfassung zu einer württembergischen Betriebsräteschaft sollte das Wirtschaftsleben umstrukturiert, gleichsam von unten herauf assoziativ organisiert werden; durch die Schaffung von Kulturräten das Kulturleben staatlicher Bevormundung entrissen und in die Freiheit der Selbstverwaltung gegeben werden. Die Differenz zur marxistischen Strategie lag darin, daß diese die Priorität in der Eroberung der politischen Macht als Voraussetzung sozialer Revolutionierung ansetzte, während die Dreigliederungsinitiative schon innerhalb des Bestehenden antizipatorisch Elemente des Neuen realisieren und auf diese Weise «befreite Gebiete»[1] schaffen wollte.

Mit der Konzentration auf diese Aufgabe waren die übrigen Aktivitäten nicht hinfällig: Die Vorbereitungen zur Waldorfschule wurden vorangetrieben, die Vorträge Rudolf Steiners und seiner Mitarbeiter fanden weiterhin statt, doch änderte sich ihre Thematik - sie bereiteten die neuen Bewegungen vor.

1. Die Betriebsrätebewegung

Die ideellen Grundlagen der Betriebsrätebewegung waren schon in den «Leitgedanken zur Sozialisierung» nach den Januargesprächen in Dornach gelegt worden: in der Dreigliederungsarbeit würde unter Sozialisierung der Aufbau einer assoziativen Wirtschaftsordnung mit veränderten Besitz- und Einkommensverhältnissen zu verstehen sein. In den öffentlichen Vorträgen vom 13., 16. und 31. Mai 1919 führte Rudolf Steiner diese Grundlagen weiter aus.[2] Vor allem ließ er keine Zweifel daran, daß die anzustrebende Sozialisierung («von unten» auszugehen habe: «Es ist untunlich heute, das zeigt gerade das Streben nach dem Rätesystem, von oben herab irgendeinen Sozialisierungsversuch zu machen. Es ist heute der einzige Weg, in gemeinsamer Arbeit mit denjenigen, die heraufstreben nach dem Rätesystem, in unmittelbar menschlichen Ideen wirklichen Meinungs- und Erfahrungsaustausch zu schaffen ... Viel wichtiger ist es heute, was derjenige zu sagen hat, der von der Arbeit kommt, als aus irgendwelchen Ideen heraus nachzudenken, wie irgendein Gesetz oder dergleichen werden sol1.»[3]

Mit dieser Aussage stellte Steiner die Dreigliederungsinitiative in den Zusammenhang der zweiten Phase der Rätebewegung hinein; diese war bestimmt von heftigen Auseinandersetzungen um Bedeutung und Aufgabe der Betriebsräte und stand im Spannungsfeld von staatlicher Gesetzgebung einerseits - im Mai 1919 wurde der erste Entwurf eines Betriebsrätegesetzes veröffentlicht - und spontaner Selbstorganisation der linksgerichteten Kreise der Arbeiterschaft andererseits. Die personellen Voraussetzungen für eine solche Anknüpfung an die Rätebewegung waren günstig: die Dreigliederungsideen hatten in der Stuttgarter Arbeiterschaft Anklang gefunden, und mit dem Arbeiterkomitee war eine einflußreiche «Pressure-group» vorhanden. Von diesem Kreis gingen die entscheidenden Initiativen innerhalb der Betriebsrätebewegung aus. Am 8. Mai 1919 fand die erste von zahlreichen Diskussionen Rudolf Steiners mit den «Arbeiterausschüssen und Betriebsräten der großen Betriebe Stuttgarts» statt;[4] die Protokolle der Sitzungen[5] vermitteln ein lebendiges Bild von Zielsetzung und Strategie der Betriebsrätebewegung.

In den einleitenden Referaten versucht Steiner von immer neuen Gesichtspunkten aus, die Sozialisierung in die Gesamtkonzeption der Dreigliederung einzuordnen. An den Anfang stellt er ein eindeutiges Bekenntnis zum Sozialismus, zu einem Sozialismus allerdings, der sich in lebendiger Gestaltung fortwährend erneuert: «Sehen Sie, mein Vorschlag geht davon aus, daß der Sozialismus, nachdem er nun einmal da ist, wiederum nicht von der Tagesordnung abgesetzt werden kann ... Der Sozialismus wird immer neu gehandhabt werden müssen, er ist etwas ganz Lebendiges ... Wer glaubt, daß er einmal den Sozialismus einführen kann, und dann ist er da, der gleicht einem Menschen, der sagt: ich habe gestern gegessen, da war ich ganz satt. Nun brauche ich nichts mehr zu essen. - Sie müssen, weil der Organismus ständig gewisse Veränderungen durchmacht, und weil er etwas Lebendiges ist, fortwährend essen. Und so ist es auch mit dem, was sozialistische Maßnahmen sind. Sie müssen fortwährend sozialisieren, weil der soziale Organismus etwas Lebendiges ist.»[6]

Nicht als starres Lehrgebäude wissenschaftlicher Theorie ist hier der Sozialismus gefaßt, sondern als ein Sozialismus der Tat, der sich an der Praxis zu bewähren und zu korrigieren hat. Immer wieder betont Steiner dabei, daß die konkreten Ausgestaltungen einer assoziativen Ökonomie von den zusammenarbeitenden Menschen abhängen; letztlich werde erst eine sich den alltäglichen wirtschaftlichen Aufgaben stellende Betriebsräteschaft zeigen, was Sozialisierung eigentlich sei.[7]

Unter diesem Gremium versteht Steiner den Zusammenschluß der Betriebsräte Württembergs zu einem Zentralrat, der etwa tausend direkt aus den Betrieben heraus entsandte Delegierte umfassen könnte.[8] Zu einer solchen Produktivassoziation müßten sich in Zukunft noch «Verkehrs-und Wirtschaftsräte» als Vertretung der Händler und Konsumenteninteressen gesellen, um - wie in den «Kernpunkten» beschrieben - zu einer assoziativen Wirtschaftsform mit ausgewogener Preisgestaltung zu kommen.[9]

So grundsätzlich die angeschnittenen Gesichtspunkte über Sozialismus und Sozialisierung auch sind - sie münden immer ein in die unmittelbar praktische Aufgabe: die Wahl von Betriebsräten, die als «Atome der Betriebsräteschaft»[10] im Mittelpunkt der Beratungen stehen.

Drei Fragen werden im wesentlichen behandelt:

  • Worin bestehen die Funktionen der Betriebsräte?
  • Wer ist in ihnen vertreten?
  • Wie werden sie gewählt?

Die in ihrer lapidaren Kürze einfachsten und eindeutigsten Aussagen zur Aufgabe der Betriebsräte finden sich in den Protokollen vom 24. Juni und 2. Juli 1919: Die Betriebsräte sollen nicht nur Beratungs-, Mitbestimmungs-oder Kontrollrechte haben; sie sollen vielmehr «im Auftrage der gesamten Arbeiterschaft die Betriebe selbst verwalten.»[11] Und in der Diskussion vom 2. Juli stellt Steiner fest: «Die Betriebsräte sind als wirkliche Leiter der Betriebe gedacht.»[12]

Solche Sätze wirken zunächst überraschend. Hatte nicht Steiner in den «Kernpunkten» eindringlich auf die Bedeutung der freien unternehmerischen Initiative hingewiesen und vor einer Lähmung der individuellen Fähigkeiten durch eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel gewarnt?[13] Bei genauerer Lektüre fällt allerdings auf, daß Steiner sich auch eine «Gruppe von Personen» als Subjekt unternehmerischer Tätigkeit vorstellen konnte.[14] Als eine solche Gruppe, als ein Organ des Geisteslebens auf wirtschaftlichem Feld, wird der Betriebsrat von ihm verstanden. So fordert er konsequent, daß innerhalb dieses Kollegialorgans mit Leitungsfunktionen die freie Einzelinitiative nicht gestört werden dürfe, «daß zum Beispiel viele befehlen wollen und dergleichen».[15] Die hier aufgezeigte Spannung wird nicht definitorisch durch Abgrenzung von Kompetenzen aufgelöst, sondern als Aufgabe kollegialer Gestaltung der sozialen Phantasie der Beteiligten überlassen.[16]

Wird die Aufgabenstellung der Betriebsräte so weit und offen gedacht, daß eine Urversammlung der Betriebsräteschaft den konkreten Kreis ihrer Funktionen eigenverantwortlich bestimmen soll,[17] gewinnt die Frage an Gewicht, wer denn in ihnen vertreten sein wird. Auch hier ist die Antwort umfassend: alle, die in Produktion und Verwaltung eines Betriebes mitarbeiten: Handarbeiter, Ingenieure und Angestellte können in den Betriebsrat gewählt werden. Von entscheidender Bedeutung werde es sein, die technische Intelligenz zu gewinnen - daß dieses nach der russischen Revolution versäumt worden sei, habe zur wirtschaftlichen Katastrophe geführt.[18] Auch der frühere Unternehmer könne mitarbeiten, sofern er bereit sei, seine ökonomischen Kenntnisse innerhalb der veränderten Betriebsstruktur einzubringen. Er sei dann nicht mehr «Arbeitgeber» - ein solcher Begriff, der voraussetze, einer «besitze» die Arbeit und könne sie «geben», erscheine innerhalb eines dreigegliederten sozialen Organismus als widersinnig -, er sei vielmehr von seiner Funktion her ein «Arbeitsleiten», eben ein «Arbeiter von anderer Art».[19]

Eine zusammenhängende Darstellung über das Verhältnis der früheren Unternehmensleitungen zum neuen Betriebsrat gibt Steiner in der Diskussion vom 2. Juli: «Ein wirklicher Betriebsrat würde entweder den heutigen Unternehmer, wenn er sich dazu bereit erklärt, als einen Betriebsrat unter sich haben, ebenso Personen aus dem Kreis der Angestellten, der geistigen Arbeiter, ferner der physischen Arbeiter, oder aber der Unternehmer müßte sich zurückziehen. Man muß sich eben durchaus darüber klar sein, daß der Betriebsrat als solcher so gedacht ist, daß er der wirkliche Leiter eines Betriebes sein wird, so daß alles Unternehmertum im heutigen Sinne neben diesem Betriebsrat verschwindet»[20]

Der Betriebsrat wird, so läßt sich resümieren, von denen gebildet werden, die «das absolute Vertrauen der Arbeiterschaft und, bis zu einem gewissen Grade, soweit es möglich ist, auch das Vertrauen der geistigen Arbeiter des betreffenden Betriebes haben.»[21]

Demgegenüber sei der Wahlmodus zweitrangig - von einer formellen Wahl bis zur einfachen Akklamation bei einer Betriebsversammlung seien verschiedene Möglichkeiten denkbar -, doch sei darauf zu achten, keine getrennte Wahl von Handarbeitern und Kopfarbeitern durchzuführen und so eine Betriebsräteschaft mit verschiedenen Kammern zu schaffen, denn das müsse in eine «aristokratische Schichtbildung» der geistigen Arbeiter hineinführen.[22] Angesichts der bevorstehenden Aufgaben sei nicht anzustreben, daß sich die geistigen Arbeiter absonderten und «Extrawürste brieten», sondern gerade das Gegenteil: die Bereitschaft zu brüderlichem Lernen. Allerdings ist gerade in der Frage der Wahl der Betriebsleitung einschränkend anzumerken, daß es sich bei der in den Diskussionsabenden skizzierten Position um Übergangsregelungen handelte, die im Fortgang der Entwicklung noch im Sinne der «Kernpunkte» zu modifizieren gewesen wären. Am 23. Juli etwa deutete Rudolf Steiner an, daß nach der Realisierung eines selbstverwalteten Geisteslebens, aus dem «die geistigen Leiter der Betriebe hervorgehen», diese Verwaltung auch ein Mitspracherecht haben werde «bei der Bestellung der Betriebsräte..., so daß in die Betriebsräteschaft auch das Urteil der geistigen Leiter Berücksichtigung findet.»[23]

Es fällt nicht leicht, die Position Rudolf Steiners in der Sozialisierungsproblematik und der Frage der Betriebsräte in den Rahmen der sehr lebhaft geführten Debatten seiner Zeit einzuordnen.

Sie entspricht nicht all jenen Vorschlägen, die das Privateigentum an Produktionsmitteln grundsätzlich erhalten, es aber durch gemeinwirtschaftliche Elemente ergänzen wollten, wie etwa die nach dem Urteil Steiners «halbherzigen Rahmengesetze» des SPD-Wirtschaftsministers Wissell und seines Unterstaatssekretärs Wichard von Moellendorf. Das von ihnen vorgeschlagene Modell einer «Deutschen Gemeinwirtschaft» sah ein System von Wirtschaftsgruppen vor, die aus Unternehmer- und Arbeitnehmervertretern, Verbrauchern und Kaufleuten gebildet waren und in einem Reichswirtschaftsrat zusammenliefen. Der Staat sollte die gemeinwirtschaftliche Verwaltung beaufsichtigen, aber auch selbst als Wirtschafter tätig werden.[24]

Die partiellen Realisierungen dieses Modells in den Sozialisierungsgesetzen über die Kohle- und Kaliwirtschaft vom 23. März und 24. April 1919 enthüllten die Defizite solcher Überlegungen. Denn die Bestimmungen brachten lediglich «eine Zwangssyndizierung zweier bereits durchkartellisierter Wirtschaftszweige»,[25] doch konnten sie weder die wirtschaftliche noch die politische Macht der Unternehmer wirkungsvoll einschränken.[26]

Auch der erste Referentenentwurf des Betriebsrätegesetzes, den das Reichsarbeitsministerium Ende April 1919 vorlegte und der von den Verbandsleitungen der Gewerkschaften mitgetragen wurde,[27] blieb systemimmanent. Der Entwurf sah für den Betriebsrat eng umgrenzte Befugnisse vor: im wesentlichen ein Mitwirkungsrecht bei der Einstellung und Entlassung von Arbeitnehmern, der Bekämpfung von Unfall- und Gesundheitsgefahren sowie bei der Verwaltung betrieblicher Wohlfahrtseinrichtungen; darüber hinaus sollte er die Betriebsleitung durch Rat unterstützen und für eine möglichst hohe Produktivität Sorge tragen.[28]

Sowohl am Zustandekommen wie am Inhalt der staatlichen Gesetzgebung übte Steiner massive Kritik. Die zur Vorbereitung des Betriebsrätegesetzes eingesetzten Sozialisierungskommissionen seien aus Arbeitgebern, Sozialpolitikern und Arbeitnehmern zusammengesetzt, das heißt in der Mehrzahl aus Leuten, die entweder am Kapitalismus festhalten wollten oder nicht in der betrieblichen Arbeit drinnenstünden;[29] auf diese Weise wolle man den Betriebsleitungen die Funktionen von außen vorschreiben und Gremien schaffen, die «den Leuten Sand in die Augen streuen, um die Arbeiter damit zu beruhigen, daß man sagt: wir haben ja die Betriebsräte.»[30] Bei einer solchen «Sozialisierung von oben» werde die Parole von der notwendigen Schulung der Betriebsräte zu einer bloßen Phrase: «Das heißt in diesem Falle nämlich nichts anderes, als die Leute darauf hin zu dressieren, daß sie sich im Dienst des Kapitalismus wohlfühlen.»[31] Die staatlich anerkannten Betriebsräte seien nichts als «Strohpuppen»,[32] mit deren Hilfe der alte Kapitalismus «wiederum aufgepäppelt»[33] werden solle.

Im Gegensatz zur staatlichen Gesetzgebung und zu den unter der falschen Flagge «Betriebsdemokratie» segelnden gewerkschaftlichen Mitbestimmungsmodellen[34] sah Steiner die Überwindung der kapitalistischen Besitzverhältnisse als Kernstück einer «wirklichen Sozialisierung» an. Vom umgewandelten Rechtsstaat «würde zunächst vor allen Dingen alles das zu regeln sein, was die gegenwärtigen Besitz- und Eigentumsverhältnisse, auf die es ja bei der wirklichen Sozialisierung vor allen Dingen ankommt, in einen wünschenswerten nächsten Zustand überführt.»[35]

Eine Verstaatlichung der Produktionsmittel innerhalb einer Zentralverwaltungswirtschaft, wie sie am pointiertesten von Otto Neurath gefordert wurde,[36] lehnte Steiner jedoch strikt ab, denn und damit formulierte er Vorbehalte gegen Bürokratisierungstendenzen: «... der Staat kann nicht durch Gesetze sozialisieren. Es kann nur aus dem Wirtschaftsleben selbst heraus sozialisiert werden.»[37]

Weder ein sozialpolitisch gebändigter Kapitalismus noch ein autoritär-technokratischer Staatssozialismus entsprechen der Dreigliederungskonzeption - was aber dann?

Offensichtlich bestand eine größere Nähe zur Konzeption einer «Sozialisierung von unten», wie sie innerhalb der «revolutionären Betriebsrätebewegung» propagiert wurde.[38] Diese war aus der zweiten revolutionären Welle im Frühjahr 1919 hervorgegangen; sie stellte den Versuch dar, nach den schweren Niederlagen die Rätebewegung unter der Flagge des «reinen Rätesystems» erneut zu sammeln. Ihre Schwerpunkte hatte sie in Berlin, Hamburg, im Ruhrgebiet, am Niederrhein sowie in Sachsen und in Halle, ihr organisatorisches Zentrum befand sich in der Berliner Münzstraße -in den Räumen der von Ernst Däumig redigierten Zeitschrift «Der Arbeiterrat». Die Diskussionen auf der vom linken USPD-Flügel einberufenen revolutionären Betriebsrätekonferenz in Halle am 27. Juli 1919 und die dort verabschiedeten Richtlinien erlauben einen Einblick in ihre programmatische Ausrichtung[39]: Die Betriebsräte entscheiden gemeinsam mit der Betriebsleitung alle sozialen und arbeitstechnischen Fragen; auf wirtschaftlichem Gebiet erhalten sie ein umfassendes Informations- und Kontrollrecht, nicht aber die Verantwortung für die unternehmerischen Belange: «Eigenmächtige selbständige Eingriffe in die Betriebsführung stehen dem Betriebsrat nicht zu.»[40] Allerdings ist die Betriebsleitung vom Betriebsrat insofern abhängig, als sie von ihm gewählt wird wie auch abgesetzt werden kann.

Ähnliche Vorstellungen existierten auch in Württemberg im Anschluß an die Gruppen, welche die Märzstreiks mitgetragen und sich im Aktionsausschuß des geeinten Proletariats eine überparteiliche Organisationsform gegeben hatten; in ihrem «Aktionsprogramm» heißt es: «Um die inneren Angelegenheiten der Betriebe zu ordnen, die Arbeitsverhältnisse, insbesondere die Entlassung und Einstellung von Arbeitern zu regeln, die Produktion zu kontrollieren, ist in den Betrieben zur Wahl von Betriebsräten zu schreiten.»[41]

Überdenkt man diese Programmatik, so erweist sich die vermutete Nähe zur Dreigliederungsbewegung als nur scheinbar. Denn im «reinen Rätesystem» sind die Betriebsräte als revolutionäre Kampforgane innerhalb der Errichtung einer Diktatur des Proletariats konzipiert, entsprechend kontrollieren sie die Betriebsführung, üben aber selbst keine Leitungsfunktion aus. Im Rahmen der Dreigliederung dagegen stellen sie im Zusammenhang mit der Betriebsräteschaft die zentralen Organe betrieblicher Selbstverwaltung, inklusive der Unternehmensführung, dar - eine Frontstellung zu einer außerhalb dieses Gremiums gedachten «Betriebsleitung» besteht folglich nicht.

Daß viele Angestellte durchaus bereit waren, in engem Zusammenwirken mit der Arbeiterschaft die Betriebe zu übernehmen, zeigt die Erklärung von Siegfried Aufhäuser (USPD), Carl Giebel (SPD) und Paul Lange (KPD), die als Vertreter der linken Opposition innerhalb der freigewerkschaftlichen Angestelltenverbände auf einer Konferenz vom 15. Mai 1919 die Mitwirkung der Betriebsräte an der Betriebsleitung forderten: diese «dürfe heute nicht mehr ausschließlich Sache des einzelnen Betriebsleiters sein, sondern Sache aller im Betrieb tätigen Arbeitnehmer.»[42]

Die Anschauungen Rudolf Steiners zur Frage der Betriebsräte erweisen sich somit als eigenständige Konzeption, die den Gedanken betrieblicher Selbstverwaltung innerhalb einer assoziativ organisierten Wirtschaft radikal zu verwirklichen suchte. Interessanterweise lassen sich zahlreiche Parallelen zu den Überlegungen eines Außenseiters der sozialistischen Bewegung entdecken: zu Karl Korsch, von dem die theoretischen Grundlagen des Rätesystems «am klarsten ... erarbeitet» wurden.[43]

Wie Steiner betont Korsch am Sozialismus den Aspekt der umwälzenden, aufbauenden Praxis, die Sozialisierung ist auch für ihn eine «Tatidee», ist «der durch praktische, menschlich-sinnliche Tätigkeit Fleisch und Wirklichkeit werdende sozialistische Gedanke».[44] Ein weiterer Berührungspunkt zwischen Steiner und Korsch liegt in der Zurückweisung aller «halben Maßregeln», die unter dem Namen Sozialisierung firmieren, aber keine Veränderung der Eigentumsverhältnisse anstreben.[45] Vor allem aber ist die Klarheit bestechend, mit der Korsch in Übereinstimmung mit Steiner auf die Gefahr von einseitigen Formen der Sozialisierung hinweist.[46] Weder dürfe eine einfache Übertragung der Betriebe an die Arbeiter gemäß der syndikalistischen Losung: «Die Bergwerke den Bergleuten, die Eisenbahnen den Eisenbahnern ... » allein das Ziel sein - dann würde ein «Produzentenkapitalismus» entstehen mit der Fortexistenz einer nicht am Bedarf ausgerichteten Produktion. Noch könne andererseits eine Verstaatlichung oder Kommunalisierung die Lösung bringen - in dem dann sich bildenden «Konsumentenkapitalismus» hätten die Arbeiter eher weniger Rechte als zuvor. Vielmehr sei ein Ausgleich des Interessengegensatzes der Produzenten und Konsumenten anzustreben; aus ihrem Zusammenwirken müsse die Bedarfs- und Preisfeststellung geleistet werden. Damit sind Aufgaben umrissen, die Steiner in ganz ähnlicher Weise den wirtschaftlichen Assoziationen zuordnete.

So ausgewogen die Selbstverwaltungskonzeption von Korsch und Steiner mit ihrer Balance von betrieblichem Unterbau und gesellschaftlichem Überbau, von praktischer Selbsttätigkeit der Arbeiterschaft und gesamtwirtschaftlicher Koordination, von Basisnähe und Überschau auch gedacht war - es drängt sich die Frage nach ihrer politischen Durchsetzbarkeit auf.

Mit dieser strategischen Problematik ist Rudolf Steiner - wie schon vorher im Arbeiterrat - in den Diskussionen mit den Arbeiterausschüssen und Betriebsräten immer wieder konfrontiert worden; sie stellte die zentrale Herausforderung in der zweiten Phase der Dreigliederungsbewegung dar. In seinen Stellungnahmen wird das Dilemma deutlich, in dem sich Rudolf Steiner befand. Einerseits versuchte er energisch, gegen die Einbahnstraße der marxistischen Strategie mit ihrem Primat der Eroberung der politischen Macht anzukämpfen und auf die Bedeutung einer Macht «von unten» im ökonomischen System hinzuweisen. Eine Betriebsräteschaft mit etwa 1000 Delegierten der württembergischen Betriebe - wenn sie denn zustande käme - stelle einen realen Machtfaktor dar! Auf diesem Hintergrund wird Steiners fast ungeduldige Reaktion auf die Frage verständlich, wie sich denn die Betriebsräte verhalten sollten, wenn sie von den Unternehmern nicht anerkannt würden: «Gewiß, man kann diese Frage aufwerfen ... Aber sehen Sie, so wie die Sache heute abend vor Sie hingetreten ist, ist ja eigentlich schon das Mögliche gegen eine solche Eventualität geschehen. Wir denken uns diese Betriebsräteschaft gar nicht so, daß es darauf ankommt, ob der Unternehmer sie nun anerkennt oder nicht.»[47]

Durch ihre Arbeit legitimiere sich die Betriebsräteschaft, durch ihre Arbeit mache sie die Kapitalisten alten Stils überflüssig. «Das heißt ja gerade , daß es in der Zukunft nicht auf sie ankommt, auf die Kapitalisten ... Würde die Frage: Was sagen die Kapitalisten dazu? - weiter bestehen, dann hätten wir eben nicht sozialisiert.»[48]

Andererseits war Rudolf Steiner bewußt, daß seine Empfehlung für die revolutionär-syndikalistische Strategie des Aufbaus einer Gegenmacht an den staatlichen und gewerkschaftlichen Institutionen vorbei auch zur politischen Kraftprobe führen mußte. Die Eroberung politischer Macht sei notwendig, sie müsse aber, solle sie von Dauer sein, getragen werden «von der Erkenntnis und Einsicht der wirklichen Majorität der Bevölkerung»;[49] ohne Bewußtseinsveränderung sei ein längerfristiger Wandel nicht möglich. Mit dieser Ablehnung von Putschtaktik und revolutionärer Gewalt und dem ganz auf der Linie der Dreigliederungsidee liegenden Bekenntnis zur Demokratie war freilich erneut die Frage gestellt, wie denn auf demokratische Weise die politische Macht zu erreichen sei. Eine Antwort findet sich in den Gesprächsprotokollen nicht - auf die damit verbundene Problematik wird noch zurückzukommen sein -, an ihre Stelle trat der Appell: «Eine Willensfrage muß aufgeworfen werden und nicht bloß eine theoretische Frage wie die: Wie bekommen wir die Majorität? Ich sage: Wir müssen sie haben! Und deshalb müssen wir arbeiten, um sie zu bekommen. Eine Willensfrage muß es sein. Anders geht es nicht.»[50]

Trotz der offen gebliebenen Machtfrage war schon beim dritten Treffen mit den Arbeiterausschüssen und Betriebsräten, am 28. Mai 1919, die gemeinsame Linie so weit abgeklärt, daß «mit allen gegen eine Stimme» eine Resolution angenommen wurde mit der Forderung, «daß so schnell wie möglich allerorts Betriebsräte gegründet werden, bevor das Gesetz, das nur eine halbe Sache ist, in Kraft tritt.»[51] Unmittelbar darauf schritt man zur Tat und rief im Flugblatt «An die Handarbeiter! An die geistigen Arbeiter! An die Fabrikanten!» zur sofortigen Wahl von Betriebsräten auf.[52]

Dieses Flugblatt war insofern mit taktischer Raffinesse gestaltet, als es den Fabrikanten Peter Bruckmann, Besitzer einer Silberwarenfabrik in Heilbronn, ein Mitglied der DDP, mit der Äußerung zitierte, er halte «die Einrichtung von Betriebsräten für das einzige Mittel, um unsere Wirtschaft leistungsfähig zu gestalten.» Auch enthält es eine bemerkenswerte außenpolitische Begründung für die Sozialisierung: Sie bewahre vor der «Knechtschaft durch englisch-amerikanisches Kapital, das drohenden Einzug hält und wahre Sozialisierung auf Jahrzehnte auslöscht» und ermögliche eine Verständigung mit Rußland. Wie treffend damit die auf gepumpten Dollarmillionen beruhende Scheinblüte der «Golden Twenties» prognostiziert wurde, ist im nachhinein frappierend, aber auch, wie wenig Rücksicht man auf die damals herrschende antibolschewistische Stimmung nahm. Mit dem Flugblatt hatte die Betriebsrätebewegung ihren Anfang genommen.

2. Die Kulturratsbewegung

Alles kam nun darauf an, auf dem kulturellen Sektor eine entsprechende Bewegung zu initiieren, wollte man nicht in eine einseitige ökonomische Ausrichtung hineingeraten. Wie früh Rudolf Steiner diese Gefahr sah und ihr entgegenzusteuern suchte, zeigen die Vorträge dieser Zeit. Während er in den öffentlichen Reden energisch die Kampagne zum Aufbau von Betriebsräten unterstützte, entwickelte er vor den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft in den drei sogenannten volkspädagogischen Vorträgen vom 11. Mai, 18. Mai und 1. Juni 1919 die Grundlagen einer anthropologisch orientierten Pädagogik für freie Volks- und weiterbildende Schulen bis hinauf zu den Universitäten.[53] Eine vom Kind ausgehende Erziehungskunst - so heißt es da - werde altersspezifisch vorgehen und auf einer fundierten Entwicklungspsychologie aufbauen; sie werde eine ganzheitliche Erziehung sein und nicht nur den Intellekt, sondern auch das Gefühl und den Willen schulen. Darüber hinaus fordert Rudolf Steiner anstelle der Einzelstunden, dieser «Mördergrube für alles dasjenige, was wahrhafte Pädagogik ist»,[54] die Möglichkeit, das Kind in einem sogenannten «Epochenunterricht» von täglich zwei Stunden über drei oder vier Wochen vertieft in einzelne Gebiete einführen zu können. Diese Grundlinien, in den Vorträgen im einzelnen begründet und ausgeführt, stellen wesentliche Merkmale der zukünftigen Waldorfpädagogik vor, doch fällt auf, daß Steiner die bevorstehende Schulgründung mit keinem Wort erwähnt. Ihm geht es um mehr. Schon im ersten, am 11. Mai gehaltenen Vortrag, zielt er auf eine umfassende Revolutionierung des ganzen Bildungswesens: «Neuschöpfungen sind insbesondere auf dem Gebiet des geistigen Strebens gerade notwendig»,[55] denn: «Die große Abrechnung ist da, nicht eine kleine Abrechnung.»[56] E. A. Karl Stockmeyer erinnert sich, daß dieser gesamtgesellschaftliche Aspekt von der anthroposophischen Zuhörerschaft nicht verstanden wurde. Der Vortrag löste Begeisterung für die eine geplante Schulgründung aus - «... alles schwärmte von der neuen Schule»[57] -, doch überhörte man Steiners Anspielungen auf die Gefahr des Sektiererischen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft ebenso wie den eindringlichen Schlußappell, man könne im Erziehen nur dann soziale Impulse anlegen, «wenn man einmal einen Strich macht unter das Alte. Und er kann gemacht werden.»[58]

Im nächsten Vortrag, eine Woche später, als sich schon eine gemeinsame Linie mit der Arbeiterschaft in der Betriebsrätefrage abzeichnet, wird Steiner deutlicher. Einleitend bemerkt er, er wolle die pädagogische Thematik zunächst nicht fortsetzen, sondern eine kulturpolitische Betrachtung anstellen und zeigen, wie «heute zu Lehrenden zu sprechen wäre, damit diese Lehrenden den Impuls bekommen, von sich aus in ein freies Unterrichtswesen einzugreifen.»[59] Und nach einer eindringlichen politischen und sozialen Analyse des 19. Jahrhunderts bis zum Weltkrieg fordert er vom zukünftigen Lehrer ein Bewußtsein für die Zeitereignisse: «Solche Dinge, sie muß insbesondere der heute wissen, der das Volk erziehen will. Der darf fernerhin nicht in irgendeinem Winkel sitzen und vom Leben nichts verstehen, sondern der muß kennen, was geschehen muß.»[60] Stattdessen habe sich die Pädagogik vom Leben entfernt, die Schule sei zu einem künstlich isolierten Gebilde geworden. Bitter beklagt Steiner in diesem Zusammenhang «das Trostlose der absoluten politischen Ungeschultheit eines großen Teiles unserer Bevölkerung».[61] Man treffe heute Menschen, und dabei könne er die Anwesenden nicht ausnehmen, wenigstens nicht alle -, welche von den Lebensbedingungen und Kämpfen der Arbeiterschaft keine Ahnung hätten. Diese Unkenntnis sei das Ergebnis einer unsozialen Pädagogik, «die die Menschen so hereinstellt in die Welt, daß sie aneinander vorbeigehen und nichts wissen voneinander».[62] Um aus dieser Misere herauszukommen, müsse man mit offenem Sinn den Erscheinungen des Lebens gegenübertreten.

Auch in diesem Vortrag war Stockmeyer ein aufmerksamer Zuhörer, er bezeichnet ihn als ein «Wachrufen und Aufrütteln aller, die hören wollen».[63] Doch nichts geschah, über eine Woche lang. Erst am 29. Mai beriet ein Kreis von Mitarbeitern des «Bundes» über die Gründung eines Kulturrats. Rückblickend bemerkte Steiner, in dieser Sitzung habe «sich nichts gerade sehr Verheißungsvolles ergeben, weil den Menschen noch nicht vor Augen steht, was heute auf dem Spiele steht ... »[64] Endlich, einen Tag später - das Flugblatt mit dem Aufruf zur sofortigen Wahl von Betriebsräten wurde schon verteilt - gab ein Teilnehmer eines öffentlichen Frageabends im Siegle-Haus die entscheidende Anregung: «Ist vom Bund für Dreigliederung bereits die Gründung eines Kulturrates für das geistige Gebiet in Aussicht genommen? Wenn nicht, dann sollte von der Versammlung die Initiative dazu ergriffen werden.»[65]

Sofort, als habe er lange daraufgewartet, sucht Steiner ein Bewußtsein für das Gewicht einer solchen Begründung zu schaffen. Das Stuttgarter Proletariat habe eben mit einer Bewegung zum Aufbau von Betriebsräten begonnen, damit stehe es in einem geschichtlichen Prozeß der Befreiung darinnen, der von der aristokratischen über die bürgerliche in eine neue Ordnung hineinführe. Bei der Überwindung der aristokratischen Gesellschaft habe das liberale Bürgertum für die Emanzipation des Rechts von der Macht gestritten. Jetzt kämpfe das Proletariat gegen die bürgerliche Ordnung um die Befreiung der Arbeit. Dabei aber drohe die ungeheure Gefahr einer Versklavung des Geisteslebens. Darum sei die Einrichtung eines Kulturrats «eine Forderung allerersten Ranges».[66] Steiner verhehlt nicht, daß sowohl die Betriebsrätebewegung wie auch der Aufbau eines Kulturrats seiner Einschätzung nach auf große Schwierigkeiten stoßen werden. Die Betriebsräteschaft müsse im Hinblick auf die bevorstehende Verabschiedung des Reichsgesetzes sich schnell bilden, da es sonst «zu spät werden könnte», der Kulturrat habe mit einem grundlegenden furchtbaren Hindernis zu kämpfen: der Interesselosigkeit. «Einzusehen, daß eine brennende Frage hier vorliegt, das ist die allernächste brennendste Aufgabe.»[67]

Mit diesen eindringlichen Hinweisen schien der Bann gebrochen. Direkt nach der Veranstaltung nahm Carl Unger Adressen von Interessenten entgegen, in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai entwarf er einen Aufruf zur Gründung eines Kulturrats. Als Flugblatt mit angehängter Beitrittserklärung lag dieser Aufruf am nächsten Abend bei einem Vortrag Steiners aus.

Der drängte zur Tat. Sowohl die bürgerliche Nationalökonomie, die nur das Bestehende registriere, wie auch der Marxismus mit seiner Lehre von einer selbstlaufenden Entwicklung hätten zur Willenslähmung geführt, die Gegenwart aber stelle die Forderung: «Jetzt handle! Handle menschlich aus deinem sozialen Wollen heraus!»[68] Und am nächsten Morgen, im dritten volkspädagogischen Vortrag, erwähnte er, scheinbar beiläufig, vor den anthroposophischen Freunden einen weiteren Grund der allgemeinen Willensschwäche. Falsche Erziehung schon auf der untersten Schulstufe habe den Deutschen zu «einer Obrigkeitsmaschine» gemacht, «zu einer Maschine, die blind der Obrigkeit folgt».[69] Außerdem: nicht jeder könne sich mit ganzer Kraft engagieren, «der eine hat Rücksicht zu nehmen auf sein Amt, der andere auf seine Frau, die andere auf ihren Mann, der andere hat Rücksicht zu nehmen auf die Erziehung seiner Kinder.»[70] Das müßten sich die Betreffenden ehrlich eingestehen und sich nicht der Illusion hingeben, schon genug getan zu haben: «Aber auf der anderen Seite sollen sie durchdrungen sein davon, daß es heute ums Stehen oder Fallen geht, gerade bei der Pflege eines wirklich kulturgemäßen Geisteslebens.»[71] Schwingt in diesen Worten nicht manche herbe Enttäuschung über anthroposophische Freunde mit, die sich eher verbaliter als tatkräftig engagierten, während Steiner selbst - wie Stockmeyer beobachtete - zu diesem Zeitpunkt «in einer ungeheuren Anspannung seiner Kräfte»[72] stand?

Immerhin wurde der Einsatz für einen Kulturrat fortgesetzt. Am Pfingstwochenende, vom 7. bis 9. Juni 1919, fanden verschiedene Versammlungen des Bundes für soziale Dreigliederung statt, in denen der improvisierte Kulturratsaufrufvom 30. Mai überarbeitetwurde.[73] Verfolgt man den Entstehungsprozeß bis zur Endfassung, ergibt sich ein interessanter Einblick in die an parlamentarische Gepflogenheiten angelehnte, korrekte Verfahrensweise der Versammelten. Mehrere Entwürfe wurden am Pfingstsonntag durchberaten. Am Abend einigte man sich in Grundzügen auf die Vorlage von Leinhas, Details sollten allerdings noch verändert werden. In der Nacht machten sich Unger, Leinhas, Stockmeyer und der Mannheimer Schwedes ans Werk. Der Morgen dämmerte, als die endgültige Fassung vorbereitet war, die dann zur Beschlußfassung vorgelegt und auch angenommen wurde.

In neun sorgfältig formulierten Absätzen umreißt der Aufruf Notwendigkeit und Aufgabenstellung eines zu gründenden Kulturrats,[74] Besonders prägnant erscheint der Hinweis auf die Gefahr einer einseitigen wirtschaftlichen Sozialisierung: «In ihr würde die bisherige Zwangsherrschaft des Kapitalismus ersetzt werden durch eine alles nivellierende und jede freie menschliche Entfaltung hemmende Bürokratie, die zu einer völligen Mechanisierung aller menschlichen Tätigkeit und damit zu einer Entmenschung des Menschen führen müßte.»[75] Demgegenüber erscheine es notwendig, erneut den Weg «zu den Vorkämpfern für ein freies deutsches Geistesleben» im deutschen Idealismus zu finden. Auffallend ist, daß sich der Aufrufin seinen konkreten Forderungen aufdas Bildungssystem konzentriert:

«1. Befreiung der Unterrichtstätigkeit von jeder staatlichen Aufsicht. Einrichtung der Grundschule nur nach pädagogisch-didaktischen Gesichtspunkten und Verwaltung derselben nur durch Persönlichkeiten, die innerhalb der Selbstverwaltung der Geisteskultur stehen.

2. Abschaffung des staatlichen Berechtigungswesens für Mittel- und Fachschulen. Autonomie der Hochschulen».

Wer in diesem Sinne für die Emanzipation des Geisteslebens wirken wolle, solle sich zu einer «freien Vereinigung von Menschen» mit dem Ziel der Umgestaltung des gesamten Unterrichts- und Erziehungswesens zusammenfinden.

Nach Pfingsten wurde dieser Aufruf an zahlreiche Hochschulen und andere Institutionen des kulturellen Lebens verschickt, er wurde den Arbeitsgruppen des In- und Auslandes zugeleitet und bei Versammlungen und Vorträgen vorgelegt. Damit war auch der zweite Strang des alternativen Aufbaus auf den Weg gekommen - allerdings mit erheblichen Startschwierigkeiten, wie ein Seitenblick auf die Betriebsrätebewegung sofort zeigt. Die Forderung nach Betriebsräten, in sozialistischen Kreisen viel diskutiert, war in der Arbeiterschaft populär; die Dreigliederung traf hier einen Nerv proletarischen Strebens und fand über den Kreis der Anthroposophen hinaus im Arbeiterkomitee engagierte Mitarbeiter. So konnte man es wagen, zur direkten, systemüberwindenden Aktion von unten, zur freien Wahl von Betriebsräten, aufzufordern. Demgegenüber gab es für den Kulturrat nur eine vergleichsweise schwache «Lobby»; die Idee war bisher eher vereinzelt - etwa von Paul Natorp - vertreten worden,[76] zudem hatte sich der im November 1918 aufbrechende Elan des «Rates geistiger Arbeiter» als revolutionäres Strohfeuer entpuppt. So ging es im Kulturratsaufrufzunächst darum, eine personelle Basis für die weitere Arbeit zu schaffen. Entsprechend allgemein war noch die ideelle Konzeption. Wie läßt sich die Selbstverwaltung einer Schule, einer Hochschule, eines Theaters konkret vorstellen, wie die Ausgestaltung des Zeitungswesens? Worin bestehen die Kompetenzen eines Kulturrats, was soll der Wahlmodus sein? Solche Fragen, wie sie entsprechend für die Betriebsräteschaft erörtert wurden, blieben zunächst offen.

Fussnoten

1. vgl. Raschke 1985

2 vgl. GA 330/31

3 ebenda, S. 200

4 Arbeiterausschüsse waren zum Teil während des Krieges als betriebliche Arbeitervertretungen mit je nach Betrieb unterschiedlichen Kompetenzen zugelassen worden; zur Wahl von Betriebsräten war in Württemberg im Zuge der März-Streiks aufgerufen worden.

5 In: GA 331

6 ebenda, s. 32f.

7 vgI. GA 331, S. 205

8 vgI. ebenda, s. 92, S. 175ff. und S. 243

9 vgI. ebenda, S. 144 und S. 175f.

10 vgI. ebenda, S. 274

11 vgI. ebenda, S. 184f.

12 ebenda, S. 222

13 vgI. GA 23, S. 75, S. 79ff.

14 vgI.ebenda,S.75

15 GA 331, S. 185

16 Inzwischen hat B. Hardorp eine Konzeption für die kollegiale Leitung von Unternehmen vorgelegt; vgI. Hardorp 1977, S. 42-64

17 vgI. GA 331, S. 111

18 vgI. ebenda, S. 97

19 ebenda, S. 113f.

20 ebenda, S. 222

21 ebenda, S. 90

22 ebenda, S. 46

23 ebenda, S. 277

24 vgI. Wissell 1919; vgI. auch: Ders. und Moellendorf, 1919

25 Winkler 1984, S. 194

26 vgI. ebenda, S. 195; vgI. auch: Schneider und Kuda, 1969, S. 112ff.

27 vgI. Winkier, S. 284

28 vgI. ebenda, S. 284

29 vgI. GA 331, S. 115

30 ebenda, S. 107

31 ebenda, S. 116

32 ebenda, S. 123

33 ebenda, S. 98

34 vgI.Winkier 1984,S.201

35 GA 331, S. 25f.

36 vgI. Schneider und Kuda 1969, S. 91 ff.

37 GA 331, S. 283

38 vgI. WinkIer 1984, S. 286

39 vgl. von Oertzen 19762 , S. 164

40 zitiert nach: ebenda, S. 164

41 HStASt E 130a, 217

42 zitiert nach: von Oertzen 19762, S. 159

43 vgl. Schneider und Kuda 1969, S. 121

44 Korsch 1980, S. 214f. 45 vgl. ebenda, S. 105ff.

46 vgl. ebenda, S. 110ff.

47 GA 331, S. 107

48 ebenda, S. 108

49 ebenda, S. 69

50 ebenda, S. 87

51 ebenda, S. 105

52 vgl. M 1, 1919, S.9

53 In: GA 192

54 ebenda, S. 128

55 ebenda, S. 87

56 ebenda, S. 102

57 Stockmeyer, unveröffentlichte Passage aus seinem Manuskript

58 GA 192, S. 102

59 ebenda, S. 105

60 ebenda, S. 118

61 ebenda, S. 119

62 ebenda, S. 119

63 Stockmeyer 1989, S. 660

64 Frageabend des Bundes für soziale Dreigliederung vom 30.5.1919, unveröffentlichtes Protokoll

65 ebenda

66 ebenda

67 ebenda

68 GA 330/31, S. 232

69 GA 192, S. 139

70 ebenda, S. 145

71 ebenda, S. 145

72 Stockmeyer, unveröffentlichte Passage aus seinem Manuskript

73 vgl. auch zum Folgenden: Leinhas 1950, S. 58ff.

74 Der Aufruf ist abgedruckt in: Leinhas 1950, S. 211 ff.; Kühn 1978, S.214ff.

75 Leinhas 1950, S. 213

76 vgl. Ruhloff 1966; vgl. Leber 1984, S. 52