Wahre Aufklärung als Grundlage sozialen Denkens

01.12.1919
[818/01] Die Zahl derjenigen Menschen nimmt stetig zu, die betonen, daß aus der sozialen Wirrnis unserer Zeit nur herauszukommen sei, wenn in das Denken und Empfinden ein Zug nach dem Geistigen komme. Die Enttäuschungen, welche « volkswirtschaftliche » Ideen gebracht haben, die ihre Grundlagen nur in der Erzeugung von materiellen Gütern und deren Verteilung suchten, führen bei vielen zu einem solchen Bekenntnis.
[818/02] Man kann aber auch deutlich sehen, wie wenig fruchtbar in unserer Zeit ein solches Bekenntnis zum Geiste wirkt. Soll es volkswirtschaftliche Anschauungen hervorbringen, so versagt es. Denn mit dem bloßen Hinweis auf den Geist ist es nicht getan. Er drückt zunächst bloß ein Bedürfnis aus. Er ist ratlos, wenn er über die Befriedigung dieses Bedürfnisses sprechen soll. In dieser Tatsache sollte man eine Aufgabe für die Gegenwart erkennen. Man sollte sich fragen: Warum kommen selbst diejenigen, die heute eine Hinwendung zum Geiste für das soziale Leben notwendig halten, nicht darüber hinaus, diese Notwendigkeit zu besprechen? Warum kommen sie nicht dazu, das volkswirtschaftliche Denken wirklich zu durchgeistigen?
[818/03] Man wird dieser Frage die Antwort finden, wenn man die Entwickelung des Denkens innerhalb der zivilisierten Menschheit in der neueren Zeit betrachtet. Diejenigen Persönlichkeiten, die sich aus der Zeitbildung heraus zu einer Weltanschauung durchgerungen haben, betrachten es als ein Zeichen ihrer höheren « Geisteskultur », von dem « Unerkennbaren » hinter den Dingen zu reden. Es ist allmählich ein weitverbreiteter Glaube geworden, daß nur ein Befangener noch über das « Wesen der Dinge », über « die unsichtbaren Gründe der sichtbaren Dinge » sprechen könne. Nun läßt sich eine solche Denkergesinnung für eine Weile gegenüber dem Naturerkennen aufrecht erhalten. Die Naturerscheinungen bieten sich dar; und auch der, welcher von einem Nachforschen über ihre Grunde nichts wissen will, kann sie beschreiben und dadurch zu einem gewissen Inhalte seines Denkens kommen.
[818/04] In volkswirtschaftlichen Dingen muß aber eine solche Denkergesinnung versagen. Denn da werden die Erscheinungen zuletzt von Menschen hervorgebracht; es gehen die Forderungen von den Menschengemütern aus. In den Menschen aber lebt gerade dasjenige als Wesenheit, wofür man sich die Einsicht vermauert, wenn man sich gewöhnt, der Natur gegenüber von einem solchen « Unerkennbaren » zu sprechen, wie es bei vielen Bekennern neuerer Lebensanschauungen zu finden ist. So ist es gekommen, daß die jüngste Vergangenheit Denkgewohnheiten in die Gegenwart herein entwickelt hat, die in volkswirtschaftlichen Dingen völlig versagen. Man kann das Gefrieren des Wassers, die Entwickelung des Embryos betrachten und dabei von dem « Unerkennbaren » in der Welt « vornehm » sprechen und die Zeitgenossen ermahnen, sich nicht in Phantasien über dieses « Unerkennbare » zu verlieren. Aber man kann nicht mit einem Denken, das an solcher Seelenverfassung sich schult, volkswirtschaftliche Aufgaben bewältigen. Diese erfordern ein Eingehen auf das volle Menschenleben. Und in diesem waltet das Geistig-Seelische, auch wenn es nur in der Forderung nach der Befriedigung materieller Bedürfnisse sich offenbart.
[818/05] Man wird erst eine Volkswirtschaftswissenschaft haben, wie die Gegenwart sie braucht, wenn man auf den Geist und die Seele nicht bloß « hinweisen » wird, sondern wenn man die Bestrebungen, zu einer wirklichen Geist-Erkenntnis zu kommen, nicht mehr als « unwissenschaftlich » und eines aufgeklärten Menschen unwürdig brandmarken wird. Denn über die Seele des Menschen wird man nur urteilen können, wenn man ihren Zusammenhang mit dem durchschaut, was man in der Naturerkenntnis meiden möchte.
[818/06] Menschen, die heute aus ihren Anschauungen heraus von übersinnlichen Dingen sprechen und die den Glauben äußern, daß nur durch solche dem Übersinnlichen zugewandte Erkenntnis der herrschende Materialismus überwunden werden könne, wird erwidert: der Materialismus sei « wissenschaftlich » überwunden. Es gäbe genügend Auseinandersetzungen, die, auf dem Boden « echter » Wissenschaft erwachsen, beweisen, daß der Materialismus zur Erklärung des natürlichen Geschehens nicht ausreicht. Demgegenüber muß gesagt werden: Solche Auseinandersetzungen mögen theoretisch interessant sein; den Materialismus können sie aber nicht überwinden. Der wird nur überwunden, wenn man nicht bloß theoretisch beweist, daß es in den Tatsachen der Welt mehr gibt, als was die Sinne sehen; der wird nur überwunden, wenn in die Betrachtung des Weltgeschehens lebendiger Geist einzieht. Nur dieser in der menschlichen Anschauung waltende Geist kann die Zusammenhänge auch überschauen, die im materiellen Leben der menschlichen Gemeinschaften wirksam sind. Man kann lange beweisen, daß das « Leben » nicht ein bloßer chemischer Vorgang sei; man wird damit dem Materialismus nicht wehe tun. Man wird ihn erst dann wirksam bekämpfen, wenn man auch den Mut hat, nicht nur zu sagen, es müsse Geist in den Weltanschauungen wirken, sondern diesen Geist wirklich zum Inhalte seines Bewußtseins macht.
[818/07] Die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus wendet sich an Menschen, die diesen Mut haben. Dieser Mut sucht vorzudringen von den Äußerlichkeiten des Lebens zu dessen innerer Wesenheit. Er erfaßt die Notwendigkeit der Pflege des freien, unabhängigen Geisteslebens, weil er einsieht, daß ein gefesseltes Geistesleben es höchstens bis zum « Hinweis » auf den Geist, nicht aber zu einem Leben im Geiste bringen kann. Er erfaßt auch die Notwendigkeit eines selbständigen Rechtslebens, weil er sich die Einsicht erringt, daß das Rechtsbewußtsein in Gebieten der Menschenseele wurzelt, die nur in einem Menschenzusammenhange wirksam sein können, der in Unabhängigkeit vom Geist- und Wirtschaftsleben sich entfaltet. Solche Einsicht kann nur erlangt werden durch die Erkenntnis des Seelischen im Menschen. Eine Lebensanschauung, die sich heranerzogen hat an der Meinung vom « Unerkennbaren » in dem Sinne vieler heutiger Gedankenrichtungen, wird zu dem Irrtum neigen, man könne eine soziale Struktur der Menschengesellschaften finden, die nur aus den materiellen Tatsachen des Wirtschaftslebens sich gestaltet.
[818/08] Der Mut, von dem hier die Rede ist, kann nicht vor der Meinung haltmachen, die Menschen seien nicht « reif » für eine solch gründliche Umwandlung ihres Denkens und Empfindens. Sie werden nur so lange « unreif » sein, als ihnen die Einsicht in das Geistige als Vorurteil « wissenschaftlich » dargelegt wird. Nicht die Unreife ist in der gegenwärtigen Wirrnis das Wirksame, sondern der Glaube, daß Geist-Erkenntnis das Zeichen eines unaufgeklärten Menschen sei. Alle Gestaltungsversuche im sozialen Leben, die aus dieser ungeistigen « Aufklärung » hervorgehen, müssen scheitern, weil sie im Gestalten den Geist ausschalten; dieser aber in dem Augenblicke seine Ansprüche im Unbewußten geltend macht, in dem der Mensch ihn aus seinem Bewußtsein verbannt. Nur wenn der Mensch nicht gegen den Geist wirkt, kann das Geistige die menschlichen Handlungen fördern. Mit dem Geiste aber wirkt nur derjenige, der ihn in sein Bewußtsein aufnimmt. Überwindung derjenigen falschen « Aufklärerei », die aus einer mißverstandenen Natureinsicht hervorgegangen ist und die in der neuesten Zeit zu einem weltlichen Evangelium weiter Menschenmassen geworden ist, wird allein die Grundlage geben können für ein soziales Wissen, das fruchtbar auf das wirkliche Leben einwirken kann.

Rudolf Steiner