Sozialer Geist und sozialistischer Aberglaube

01.10.1919
[813/01] Wenn die Ursachen der modernen sozialen Bewegung besprochen werden, so weist man unter anderem darauf hin, daß weder der Besitzer der Produktionsmittel noch der Arbeiter an denselben in der Lage ist, dem Erzeugnis etwas mitzuteilen, was aus einem unmittelbaren persönlichen Interesse an demselben stammt. Der Besitzer der Produktionsmittel läßt die Erzeugnisse herstellen, weil sie ihm Gewinn bringen; der Arbeiter, weil er seinen Lebensunterhalt verdienen muß. Eine Befriedigung an dem hergestellten Produkte als solchem hat weder der eine noch der andere. Man trifft in der Tat einen wesentlichen Teil der sozialen Frage, indem man in dieser Art auf den Mangel eines persönlichen Verhältnisses der Erzeuger zu ihren Erzeugnissen in der modernen Wirtschafsordnung hindeutet. Aber man wird sich auch bewußt werden müssen, daß dieser Mangel die notwendige Folge der neueren Technik und der damit verbundenen Mechanisierung der Arbeitsweise ist. Er kann innerhalb des Wirtschaftslebens selbst nicht beseitigt werden. Was im Großbetrieb bei weitgehender Arbeitsteilung hergestellt wird, kann dem Hersteller nicht so nahe liegen wie dem mittelalterlichen Handwerker sein Produkt. Man wird sich damit abfinden müssen, daß für einen großen Teil der menschlichen Arbeit die Art des Interesses, die früher vorhanden war, dahin ist. Man sollte aber auch darüber sich klar sein, daß der Mensch nicht ohne Interesse arbeiten kann. Zwingt ihn das Leben dazu, so fühlt er sein Dasein als öde und unbefriedigend.
[813/02] Wer es ehrlich mit der sozialen Bewegung meinen will, der muß daran denken, für das hingeschwundene Interesse ein anderes zu finden. Man wird dazu aber nicht imstande sein, wenn man den Wirtschaftsprozeß zum alleinigen Inhalt des sozialen Organismus und die rechtliche Ordnung und das geistige Leben zu einer Art Anhang desselben machen will. In einer marxistisch geregelten wirtschaftlichen Großgenossenschaft mit Rechtsordnung und Geistesleben als « ideologischen Überbau » müßte die völlige Interesselosigkeit an aller Arbeit das Menschenleben zur Qual machen. Die eine solche Großgenossenschaft herbeiführen wollen, bedenken nicht, daß zwar einige Begeisterung erweckt werden kann, durch den Reiz des Strebens nach einem solchen Ziele, daß aber, sobald es verwirklicht ist, dieser Reiz aufhört und das Eingespanntsein in einen unpersönlichen Gesellschaftsmechanismus alles aus den Menschen auspumpen müßte, das im Lebenswillen sich offenbart. Daß ein derartiges Ziel breite Volksmassen begeistern kann, ist nur ein Ergebnis davon, daß mit dem Schwinden des Interesses an den Arbeitsprodukten nicht das Wachstum eines anderen Interesses Platz gegriffen hat. - Die Erweckung eines solchen Interesses müßten sich diejenigen zur Aufgabe machen, die gegenwärtig durch ihren vererbten Anteil an der Geistesbildung noch in der Lage sind, über die bloß wirtschaftlichen Bedürfnisse des Menschen hinaus an gesellschaftliche Güter denken zu können. Diese müßten zur Einsicht sich bequemen, daß zwei Interessenkreise an die Stelle des alten an der Arbeit treten müssen. In einer auf Arbeitsteilung beruhenden Gesellschaftsordnung kann die Arbeit auch dann, wenn sie um ihrer selbst willen nicht befriedigt, dies dadurch, daß man sie verrichtet um des Interesses willen, das man an denen hat, für welche man sie leistet. Dieses Interesse aber muß in lebendiger Gemeinschaft entwickelt werden. Eine Rechtsordnung, in welcher der einzelne Mensch als gleicher unter gleichen darinnen steht, erweckt das Interesse für die Mitmenschen. Man arbeitet in einer solchen Ordnung für die andern, weil man das Verhältnis seiner selbst zu ihnen lebendig begründet. Aus der Wirtschaftsordnung heraus wird man nur gewahr, was die andern von einem verlangen; in der lebendigen Rechtsordnung wird der eine dem andern wertvoll aus Quellen der Menschennatur heraus, die sich damit nicht erschöpfen, daß die Menschen einander brauchen, um für die Bedürfnisse die entsprechenden Güter zu schaffen.
[813/03] Zu diesem Interessenkreis, der aus einer gegenüber dem Wirtschaftsleben selbständigen Rechtsordnung sich ergibt, muß noch ein anderer treten. Ein Menschendasein, dessen geistiger Inhalt aus der Wirtschaftsordnung sich ergeben soll, kann bei mangelndem Interesse an den Arbeitsprodukten auch dann noch nicht befriedigen, wenn das Interesse des einen Menschen an dem andern durch die Rechtsordnung gepflegt wird. Denn es müßte zuletzt doch die Erkenntnis aufdämmern, daß man gegenseitig für einander bloß um des Wirtschaftens wirtschafte. Das Wirtschaften erhalt seinen Sinn nur, wenn es sich dienstbar zeigt einem Inhalt des Menschenlebens, der über das Wirtschaften hinaus liegt, und welcher von dem Wirtschaften ganz unabhängig sich offenbart. Die Arbeit, die um ihrer selbst willen nicht befriedigt, wird wertvoll, wenn sie in einem Leben verrichtet wird, das von einem höheren geistigen Gesichtspunkte aus so aufgefaßt werden kann, daß der Mensch Zielen zustrebt, zu denen das Wirtschaftsleben nur das Mittel ist. Ein solcher geistiger Gesichtspunkt ist nur aus einem selbständigen Geistesgliede des sozialen Organismus heraus zu gewinnen. Ein Geistesleben, das der « Überbau » der Wirtschaftsordnung ist, erscheint nur als das Mittel des Wirtschaftslebens.
[813/04] Die Kompliziertheit des modernen Wirtschaftens mit seiner Mechanisierung der menschlichen Arbeit macht als Gegenpol das freie selbständige Geistesleben notwendig. Frühere Lebensepochen der Menschheit vertrugen die Verschmelzung von Wirtschaftsinteressen mit geistigen Antrieben, weil die Wirtschaft der Mechanisierung noch nicht verfallen war. Soll der Mensch in dieser Mechanisierung nicht untergehen, so muß seine Seele sich jederzeit, während er in der mechanischen Arbeitsordnung drinnen steht, frei erheben können zu den Zusammenhängen, in die er aus einem freien Geistesleben heraus sich versetzt fühlt.
[813/05] Kurzsichtig ist, wer dem Hinweis auf das freie Geistesleben und die von der Menschengleichheit geforderte selbständige Rechtsordnung die Meinung entgegenstellt: diese beiden können doch die vor allem bedrückende wirtschaftliche Ungleichheit nicht überwinden. Denn die Wirtschaftsordnung der neueren Zeit hat zu dieser Ungleichheit dadurch geführt, daß sie die Rechtsordnung und die Geistespflege, auf die sie angewiesen ist, noch nicht zur Seite gehabt hat. Das marxistische Denken glaubt, daß jede wirtschaftliche Produktionsform durch sich selbst die folgende als die höhere vorbereitet, und daß, wenn dieser Vorbereitungsprozeß abgeschlossen ist, durch die « Entwicklung » diese höhere an die Stelle der niederen treten müsse. In Wahrheit hat die neuere Produktionsform sich nicht aus dem alten Wirtschaften heraus entwickelt, sondern aus den Rechtsformen und den geistigen Vorstellungsarten einer alten Zeit. Diese selbst aber sind, während sie die Wirtschaftsform erneuert haben, veraltet und bedürfen der Verjüngung. Von allen Arten des Aberglaubens ist derjenige der schlimmste, der behauptet, man könne Recht und Geist aus der wirtschaftlichen Produktionsform hervorzaubern. Denn er verdunkelt nicht bloß das menschliche Vorstellen, sondern das Leben selbst. Er verhindert, daß der Geist sich zu seinem Quell wende, weil er ihm einen Scheinquell in dem Ungeistigen entdecken will. Der Mensch aber läßt sich nur allzu leicht täuschen, wenn man ihm davon spricht, daß der Geist aus dem Ungeist von selbst entstehe; denn durch diese Täuschung glaubt er sich von der Anstrengung befreit, die er als notwendig anerkennen muß, wenn er einsieht, daß der Geist nur durch den Geist erarbeitet werden kann.

Rudolf Steiner