Geistespflege und Wirtschaftsleben

01.10.1919
[811/01] Von « Sozialisierung » reden heute viele Menschen so, als ob damit eine Summe von äußeren Einrichtungen im Staate oder in dem gesellschaftlichen Zusammenleben gemeint sein könnte, durch die gewisse Forderungen der neueren Menschheit ihre Erfüllung finden sollen. Man stellt sich vor, diese Einrichtungen seien jetzt noch nicht da; deswegen herrsche soziale Unzufriedenheit und Wirrnis. Wenn sie einmal da sein werden, dann müsse ein geordnetes soziales Zusammenleben und Zusammenwirken der Menschen eintreten. Daß sich viele einer solchen Meinung, mehr oder weniger deutlich bewußt, hingeben, ist der Grund, aus dem heraus sich viele schädliche Vorstellungen über die « soziale Frage » entwickeln. Denn man kann nicht äußere Einrichtungen so gestalten, daß diese durch sich den Menschen ein sozial befriedigendes Leben ermöglichen. Solche Einrichtungen werden technisch gut sein, wenn durch sie in der zweckmäßigsten Art Güter erzeugt und dem menschlichen Gebrauche zugeführt werden können. Sozial gut werden sie aber erst dann, wenn in ihnen sozial gesinnte Menschen die erzeugten Güter im Dienste der Gemeinschaft verwalten. Wie auch die Einrichtungen sein mögen: es ist immer ein Wirken von Menschen oder Menschengruppen denkbar, das antisozialen Charakter trägt.
[811/02] Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, daß ohne « sozial gestimmte » Menschen ein sozial befriedigender Lebenszustand herbeigeführt werden könne. Denn eine solche Illusion ist für die wirklich praktischen sozialen Ideen ein Hindernis. Die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus strebt nach völliger Freiheit von einer derartigen Illusion. Es ist daher begreiflich, daß sie von allen denen heftig befehdet wird, die heute noch im trüben Nebel dieser Illusion leben. In dem einen der drei Glieder des sozialen Organismus strebt diese Idee ein Zusammenwirken von Menschen an, das ganz auf den freien Verkehr und die freie Vergesellschaftung von Individualität zu Individualität begründet ist. In keine vorbestimmte Einrichtung werden da die Individualitäten hineingezwängt. Wie sie einander stützen und fordern, das soll lediglich daraus sich ergeben, was der eine dem andern durch seine Fähigkeiten und Leistungen sein kann. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß sich viele Menschen gegenwärtig noch gar nichts anderes vorstellen können, als daß bei solch freier Gestaltung der menschlichen Verhältnisse im geistigen Gliede des sozialen Organismus nur anarchische Zustände innerhalb desselben sich ergeben müßten. Wer so denkt, der weiß eben nicht, welche Kräfte der innersten Menschennatur dadurch an ihrer Entfaltung verhindert werden, daß der Mensch in die Schablonen hinein entwickelt wird, die ihn vom Staats- oder Wirtschaftsleben aus formen. Solche Kräfte der innersten Menschennatur können nicht durch Einrichtungen entfaltet werden, sondern allein dadurch, daß Menschenwesen auf Menschenwesen in völliger Freiheit wirkt. Und was da entfaltet wird, das wirkt nicht antisozial, sondern sozial. Das sozial wirksame, menschliche Innere wird nur verkümmert, wenn Instinkte vererbt oder anerzogen werden, die von staatlicher Bevorrechtung oder wirtschaftlicher Übermacht herrühren.
[811/03] Der dreigliedrige soziale Organismus wird durch sein geistiges Glied fortwährend Quellen bloßlegen für soziale Antriebe. Diese werden die rechtlichen Beziehungen der Menschen, die im demokratischen Staate ihre Regelung finden sollen, mit sozialem Geiste durchtränken, und sie werden auch in die Führung des Wirtschaftslebens diesen Geist hineintragen.
[811/04] Im Wirtschaftskreislauf wird durch die Lebensformen der neueren Zeit die Tendenz nach dem Antisozialen nicht zu verhindern sein. Denn es wird der Gemeinschaft am besten gedient, wenn ungehemmt der einzelne seine Fähigkeit zum Gedeihen dieser Gemeinschaft anwenden kann. Dazu aber ist notwendig, daß dieser einzelne Kapital ansammeln, und daß er auch mit andern sich frei vereinigen kann zur wirtschaftlichen Auswertung dieses Kapitales. Sozialistische Illusion hat geglaubt, daß diese immer mehr angesammelten Kapitalmassen zuletzt von ihren Privatbesitzern einfach an die Gemeinschaft übergehen könnten und sich dadurch eine sozialistische Gesellschaftsordnung verwirklichen müßte. In Wahrheit müßte durch solchen Übergang die wirtschaftliche Fruchtbarkeit des Kapitals verlorengehen; denn diese beruht auf den individuellen Fähigkeiten der einzelnen. Man sollte sich rückhaltlos eingestehen: Der Wirtschaftskreislauf wird dann am lebenskräftigsten sein, wenn ihm auf seinem eigenen Gebiete die Tendenz zum Antisozialen nicht genommen wird; dafür ihm aber fortdauernd aus einem anderen Gebiete, dem geistigen Gliede des sozialen Organismus, Kräfte zugeführt werden, welche das entstehende Antisoziale wieder zum Sozialen zurückbringen.
[811/05] In meinen « Kernpunkten der sozialen Frage » habe ich versucht, zu zeigen, daß eine wahrhaft soziale Denkungsart nicht anstreben kann die Überführung der Kapitalverwaltung durch den einzelnen oder durch die Menschengruppe in diejenige durch die Gemeinschaft; sondern daß, im Gegenteil, der einzelne die Möglichkeit haben müsse, ungehemmt seine Fähigkeiten durch Kapitalverwertung in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, und daß, wenn dieser einzelne seine Fähigkeiten nicht mehr auf die Kapitalverwertung wenden will oder kann, diese übertragen werden müsse auf einen andern, der gleiche Fähigkeiten hat. Diese Übertragung soll nicht durch staatliche Bevorrechtung oder wirtschaftliche Macht bewirkt werden, sondern durch das auf Grund der Erziehung im freien Geistesleben erworbene Herausfinden desjenigen als Nachfolger, der vom sozialen Gesichtspunkte der geeigneteste ist.
[811/06] Der in dieser Art von der Heilung unserer sozialen Zustände spricht, sieht im Geiste den Hohn aller derer, die sich heute als Lebenspraktiker ansehen. Er muß diesen Hohn zunächst ertragen, obwohl er weiß, daß die Gesinnung der also Höhnenden die furchtbare Menschheitskatastrophe der letzten Jahre heraufgeführt hat. Dieser Hohn wird noch einige Zeit andauern können. Dann aber werden selbst die verbohrtesten Menschen dieser Art nicht mehr standhalten gegenüber der Lehre der sozialen Tatsachen. Die Phrase wird dann verstummen müssen, daß Vorschläge wie der von der Dreigliederung gut gemeint sein mögen, daß aber zu ihrer Durchführung die « Menschen nicht da sind ». Die Präger dieser Phrase sind allerdings nicht « dazu da ». So mögen sie sich doch zurückziehen und durch ihre brutale Macht diejenigen am fruchtbaren Arbeiten nicht hindern, die gerne dafür sorgen möchten, daß in einem freien Geistesleben die sozialen Triebe der Menschen zur Entfaltung kommen.

Rudolf Steiner