Was "neuer Geist" fordert

01.09.1919

[809/01]An den unfruchtbaren Diskussionen, die gegenwärtig in vielen Kreisen über die Betriebsräte gepflogen werden, kann man deutlich wahrnehmen, wie wenig noch Verständnis vorhanden ist für die Forderungen, die der Menschheit aus ihrer geschichtlichen Entwickelung heraus für Gegenwart und nächste Zukunft erwachsen sind. Von der Einsicht, daß in Demokratie und sozialer Lebensgestaltung zwei im Menschenwesen der neueren Zeit selbst liegende Antriebe sich ausleben wollen, davon ahnen die meisten von denen, die in solchen Diskussionen mitreden, nichts. Beide Antriebe werden so lange beunruhigend und zerstörend im öffentlichen Leben wirken, bis man es zu Einrichtungen bringt, in denen sie sich entfalten können, aber der soziale Antrieb, der im Wirtschaftskreislauf wird leben müssen, kann sich, seinem Wesen nach, nicht demokratisch offenbaren. Ihm kommt es darauf an, daß die Menschen im wirtschaftlichen Produzieren den rechtmäßigen Bedürfnissen ihrer Mitmenschen Rechnung tragen. Eine von diesem Antrieb geforderte Regelung des Wirtschaftskreislaufes muß auf das gebaut sein, was die wirtschaftenden Personen füreinander tun. Diesem Tun aber müssen Verträge zugrunde liegen, die herauswachsen aus den wirtschaftlichen Positionen der wirtschaftenden Menschen. Zum Abschluß dieser Verträge ist, wenn sie sozial wirken sollen, zweierlei nötig. Erstens müssen sie entspringen können aus der freien, auf Einsicht ruhenden Initiative der Einzelmenschen; zweitens müssen diese einzelnen Menschen in einem Wirtschaftskörper leben, in dem die Möglichkeit gegeben ist, durch solche Verträge die Leistung des Einzelnen in der denkbar besten Weise der Gesamtheit zuzuführen. Die erste Forderung kann nur erfüllt werden, wenn sich kein politisch gearteter Verwaltungseinfluß zwischen den wirtschaftenden Menschen und sein Verhältnis zu den Quellen und Interessen des Wirtschaftslebens stellt. Der zweiten Forderung wird Rechnung getragen, wenn Verträge nicht nach den Forderungen des ungeregelten Marktes, sondern nach den Bedingungen geschlossen werden, die sich ergeben, indem sich den Bedürfnissen gemäß Betriebszweige untereinander und mit Konsumgenossenschaften assoziieren, so daß die Warenzirkulation im Sinne dieser Assoziationen verläuft. Durch das Bestehen dieser Assoziationen ist den wirtschaftenden Personen der Weg vorgezeichnet, den sie in jedem einzelnen Falle zur vertraglichen Regelung ihrer Tätigkeit nehmen sollen.[809/02]Für ein in dieser Art gestaltetes Wirtschaftsleben gibt es kein Parlamentarisieren. Es gibt nur das fachkundige und fachtüchtige Stehen in einem Betriebszweige und das Verbundensein der eigenen Position mit andern in der sozial zweckmäßigsten Weise. Was innerhalb eines solchen Wirtschaftskörpers geschieht, das wird nicht durch « Abstimmungen » geregelt, sondern durch die Sprache der Bedürfnisse, die durch ihr eigenes Wesen auf das eingeht, was durch den fachkundigsten und fachtüchtigsten Menschen geleistet und durch föderativen Zusammenschluß an den rechten Ort seines Verbrauches geleitet wird.[809/03]Aber wie im natürlichen Organismus das eine Organsystem sich durch seine eigene Tätigkeit auflösen müßte, wenn es nicht durch ein anderes reguliert würde, so muß auch das eine Glied des sozialen Organismus durch andere reguliert werden. Was durch die wirtschaftenden Menschen im Wirtschaftskörper geschieht, müßte im Laufe der Zeit zu den seiner Wesenheit entsprechenden Schädigungen führen, wenn nicht durch die politisch-rechtliche Organisation, die ebenso sicher auf demokratischer Grundlage ruhen muß, wie dies das Wirtschaftsleben nicht kann - der Entstehung solcher Schädigungen entgegengearbeitet würde. Im demokratischen Rechtsstaate ist das Parlamentarisieren berechtigt. Was da entsteht, das wirkt in der wirtschaftenden Betätigung der Menschen ausgleichend auf die Neigung des Wirtschaftslebens, zu Schädigungen zu führen. Wollte jemand das Wirtschaftsleben selbst in die Verwaltung der Rechtsstruktur einspannen, so benähme er ihm seine Tüchtigkeit und seine Beweglichkeit. Das Recht muß von den wirtschaftenden Menschen von einer außerhalb des Wirtschaftslebens liegenden Stelle empfangen und im Wirtschaftsleben nur angewendet werden.[809/04]Die Erörterung über solche Dinge müßte da gepflogen werden, wo man sich mit der Einrichtung von Betriebsraten beschäftigt. Statt dessen herrscht da ein Herumreden von Gesichtspunkten aus, die dem alten Prinzip entsprechen, die politische Gesetzgebung nach den Interessen der wirtschaftenden Gruppen zu gestalten. Daß gegenwärtig eben andere Gruppen nach diesem Prinzip verfahren wollen als früher, das ändert nichts an der Tatsache, daß ein neuer Geist heute da noch fehlt, wo man seiner schon dringend bedürftig ist.[809/05]Es liegen die Verhältnisse heute so, daß erst dann eine Gesundung des öffentlichen Lebens eintreten kann, wenn von einer genügend großen Anzahl von Menschen die wahren sozialen, politisch-rechtlichen und geistigen Forderungen der Gegenwart durchschaut werden. Von Menschen, die den guten Willen und die Kraft haben, anderen das auf diesem Felde notwendige Verständnis zu vermitteln. Aber die Dinge stehen auch so, daß die noch vorhandenen Hemmnisse für diese Gesundung verschwinden werden in dem Maße, als sich die hier charakterisierte Einsicht verbreitet. Denn es ist nur ein politisch-sozialer Aberglaube, daß diese Hemmnisse objektiver, außerhalb der menschlichen Einsicht liegender Wesenheit sind. Das behaupten nur diejenigen, die niemals begreifen, welches das wirkliche Verhältnis von Idee und Praxis ist. Solche Menschen sagen: die Idealisten haben ja wohl gute oder gutgemeinte Ideen; aber, « so wie die Dinge einmal liegen, lassen sich diese Ideen nicht verwirklichen ». Nein, so ist es nicht, sondern so, daß für die Verwirklichung gewisser Ideen in der Gegenwart das einzige Hindernis diejenigen Menschen bilden, welche den eben gekennzeichneten Glauben und dazu die Macht haben, im Sinne dieses Glaubens hemmend zu wirken. Und eine solche Macht haben auch diejenigen, mit denen die Volksmassen aus früheren Parteigruppierungen heraus als mit ihren « Führern » zusammengeschlossen sind, und denen sie gehorsam folgen. Daher ist eine Grundbedingung der Gesundung die Auflösung dieser Parteigruppierungen und die Hebung des Verständnisses für Ideenbildungen, die aus der praktischen Einsicht selbst herauswachsen ohne allen Zusammenhang mit Partei- und Gruppenmeinungen von ehemals. Es ist eine brennende Frage der Gegenwart, daß Mittel und Wege gefunden werden, an die Stelle der Parteimeinungen diese unabhängigen Ideenbildungen zu setzen, die Kristallisationskerne abgeben können für den Zusammenschluß von Menschen von allen Parteiseiten her. Von solchen Menschen, die in der Lage sind, zu erkennen, daß die bestehenden Parteien sich überlebt haben, und daß die sozialen Zustände der Gegenwart ein vollgültiger Beweis für diese Überlebtheit sind.[809/06]Es ist begreiflich, daß den Menschen, denen diese Erkenntnis nottut, sie nicht leicht wird. Den Massen nicht, weil deren Angehörige nicht Zeit und Muße und oftmals nicht die Vorschulung haben, die erforderlich sind. Den Führern nicht, weil ihre Vorurteile und ihre Macht in dem wurzeln, was sie bisher vertreten haben. Daß dieses beides besteht, macht die Verpflichtung nur um so dringlicher, über die Parteitraditionen der Gegenwart hinaus, nicht innerhalb derselben, den wahren Fortschritt der Menschheit zu suchen. Es genügt heute nicht, bloß zu wissen, was an die Stelle des Bisherigen an Einrichtungen treten soll; es ist notwendig, daran zu arbeiten, die neuen Ideenbildungen in eine solche Richtung zu bringen, daß sie die Auflösung des alten Parteiwesens so schnell als möglich bewirken und zum Streben der Menschen nach neuen Zielen führen. Wer dazu nicht den Mut hat, der kann nichts beitragen zur Gesundung des sozialen Lebens; und wer den Aberglauben hat, solches Streben sei eine Utopie, der baut auf einen Boden, der im Einsinken ist.

Rudolf Steiner