Zweierlei Maß

01.01.1901

Quelle: Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 1901, II. Jahrgang, Nr.50

Die Schrift « Heine, Dostojewskij und Gorkij » von Dr. J. E. Poritzky (verlegt bei Richard Wöpke in Leipzig), die soeben erschienen ist, bietet, neben manchen anderen beachtenswerten Ausführungen, auch eine Betrachtung über die HeineLiteratur am Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts. Man wird an Grundübel unserer literarischen Gegenwart erinnert, wenn man die Gedanken Poritzkys liest. Namentlich die Selbständigkeit des Urteilens bei vielen Literaten unserer Zeit wird fraglich, wenn man die Beleuchtungen Heines verfolgt. Denn es ist ohne Zweifel richtig, worauf Poritzky hinweist (S. 6): « Die germanischen Urteile Julian Schmidts und Heinrich v. Treitschkes sind noch immer nicht überwunden; sie setzen vielmehr ihre Wirkung im stillen weiter fort.» Es gibt eben leider heute viele « Schriftsteller », in denen weder die Fähigkeit noch auch der Wille vorhanden ist, solche Urteile unbefangen auf ihren Wert zu prüfen. Ein Urteil von sich zu geben, haben diese « Schriftsteller », die zuweilen ganz angesehene Stellungen einnehmen können, durchaus nötig; eines zu haben, darauf verzichten sie schon eher. Die HeineLiteratur ist ein guter Boden, um Beobachtungen nach diesen Richtungen hin machen zu können.

Man braucht nur etwas aufmerksam die Dinge zu verfolgen, und da wird man finden, daß die Phrasen, mit denen sich die Gegner Heines breitmachen, immer wieder dieselben sind. Nun kommt bei Heine noch etwas ganz Besonderes hinzu. Es kann Leute geben, die sonst nicht unbedeutend sind und denen Heine gegenüber ein unbefangenes Urteil versagt ist. Auf ein solches Beispiel weist Poritzky treffend hin (S. 6 fl.): « Der sonst geistreiche Hehn nennt Heine einen jüdischen Nachäffer. »

Victor Hehn hat ein Buch über Goethe geschrieben, das großes Ansehen genießt. In diesem Buche finden sich die folgenden Sätze: « Heine hat kein Gemüt, sondern nur ein großes Talent der Nachahmung. Wie mancher seiner Stammesbrüder mit der Zunge so kunstreich schnalzen kann, daß man wirklich eine Nachtigall zu vernehmen glaubt, wie ein anderer Art und Stil < berühmter Muster > genau treffend wiedergibt, wie in den langen Jahren der Kladderadatsch in allen lyrischen Formen aller Dichter und Dichterschulen sich erging, so wußte auch Heine die einfältige Treue des Volksliedes, die Phantasien E. Th. A. Hoffmanns und der Romantik, Goethes Herzenslaute und mclodiösen Gesang mit so virtuoser Kunst nachzupfeifen, daß man sich täuschen ließ und die Similisteine für echt hielt. » Poritzky zeigt, daß man mit einem solchen Vorwurf, wenn man will, jeden schaffenden Geist treffen kann; daß aber andererseits gar nichts damit gesagt ist, wenn man für dieses oder jenes Geistesprodukt ein Vorbild nachweist.

Man fragt sich aber doch: wie kommen unter die mancherlei gesunden, geistvollen Ausführungen, die Hehn in seinen « Gedanken über Goethe » vorbringt, solche Absurditäten? Man kann dafür keinen anderen Grund finden als den, daß Hehn seine gesunde Urteilsfähigkeit sofort verlor, wenn er auf den « Juden » Heine stieß. Er hatte ein allgemeines Urteil, das natürlich besser Vorurteil heißen muß, über den « Juden », und das machte es ihm unmöglich, der Einzelpersönlichkeit Heine gegenüber noch besonders eine Prüfung anzustellen. Nun ist gerade bei Victor Hehn etwas nachzuweisen, was Poritzky nach der Aufgabe, die er sich gestellt hat, nicht hervorheben konnte, was ich aber doch hier anfügen möchte.

Goethe spricht einmal von den Geistern, die auf seine Entwicklung den allergrößten Einfluß ausgeübt haben, und nennt als solche-. Shakespeare, Spinoza und Linné. Daß Spinozas Judentum für das ganze Gefüge seiner Weltanschauung nicht nur nicht gleichgültig ist, sondern einen tiefgehenden Einfluß auf sie geübt hat, dafür hat Lazarus in seinem ausgezeichneten Buche über die « Ethik des Judentums » den Beweis erbracht. Es ist nun zweifellos, daß Spinozas Wirkung auf Goethe eine ganz außerordentliche ist. Wir begreifen manche Empfindung, manche Vorstellung bei Goethe nur, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß er sich immer wieder und wieder in die Ideenwelt des Spinoza vertieft hat, ja daß Goethes stürmische Leidenschaften ihren inneren Ausgleich oftmals durch Versenkung in die philosophische Ruhe des Amsterdamer Weltweisen gefunden haben. Vieles von dem, was Hehn bei Goethe bewundert, verdankt Goethe, und wir mit ihm, dem Spinoza. Und nach dem Durchgang durch Goethes Geist nimmt auch Victor Hehn die « jüdische » Philosophie des Spinoza als etwas Großes hin. - Wenn er aber bei Heine ein ganz ähnliches Verhältnis zu Goethe nachweisen zu können glaubt, dann - schnalzt Heine wie eine Nachtigall.

Ist es solchen Erscheinungen gegenüber nicht grell in die Augen springend, wie urteilslos selbst bedeutende Persönlichkeiten werden können, wenn ein mehr oder weniger offener Antisemitismus bei ihnen vorhanden ist. Übrigens hat Poritzky auf Seite 7 seines Schriftchens eine Zusammenstellung neuerer Heine-Beurteilungen gegeben, die in wahrhaft ergötzlicher Weise zeigt, wie in der Literatur alles gesunde Urteil aufhören kann, wenn die Verlockung eintritt, nicht mehr mit einerlei Maß zu messen.

Rudolf Steiner