Soziologisches Grundgesetz - Teil 1

01.07.1898

Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen. (Rudolf Steiner)

Die soziale Frage

[450/01] Es ist nicht leicht, heute über die « soziale Frage » zu sprechen. Unendlich viel trägt dazu bei, gegenwärtig unser Urteil über diese Frage in der ungünstigsten Weise zu beeinflussen. Keine Sache ist wie diese « von der Parteien Gunst und Haß verwirrt » worden. Wie auf wenigen Gebieten stehen sich die Ansichten schroff gegenüber. Was wird nicht alles vorgebracht? Und wie bald bemerkt man bei vielen auftretenden Ansichten, daß sie von Geistern herrühren, die mit den größtmöglichen Scheuledern durch die Welt der Tatsachen spazieren.
[450/02] Ich kann aber die Hindernisse, die einer wünschenswerten Beurteilung der sozialen Frage von den Parteileidenschaften in den Weg gelegt werden, nicht einmal für die schlimmsten halten. Durch sie werden doch nur diejenigen beirrt, die innerhalb des Parteigetriebes stehen. Wer jenseits dieses Getriebes steht, hat immer die Möglichkeit, ein persönliches Urteil zu bilden. Ein viel bedeutsameres Hindernis scheint mir darin zu liegen, daß es unseren denkenden Köpfen, unseren wissenschaftlich geschulten Kulturträgern durchaus nicht gelingen will, einen sicheren Weg, eine methodische Art zu finden, wie diese Frage in Angriff zu nehmen ist.
[450/03] Immer und immer wieder komme ich zu dieser Überzeugung, wenn ich Schriften über die soziale Frage lese von Autoren, die wegen ihrer wissenschaftlichen Bildung durchaus ernst zu nehmen sind. Ich habe bemerkt, daß auf diesem Gebiete die Art des Denkens, die unsere Forscher unter dem Einflusse des Darwinismus sich zu eigen gemacht haben, vorläufig durchaus noch nicht segensreich wirkt. Man mißverstehe mich nicht. Ich sehe ein, daß mit der darwinistischen Denkweise einer der größten Fortschritte vollbracht ist, welcher die Menschheit hat machen können. Und ich glaube, daß der Darwinismus auf allen Gebieten menschlichen Denkens segensreich wirken muß, wenn er richtig, d. h. seinem Geiste gemäß, angewendet wird. Ich selbst habe in meiner Philosophie der Freiheit ein Buch geliefert, das, nach meiner Meinung, ganz im Sinne des Darwinismus geschrieben ist. Es ist mir bei der Konzeption dieses Buches ganz eigentümlich gegangen. Ich habe über die intimsten Fragen des menschlichen Geisteslebens nachgedacht. Ich habe mich dabei um den Darwinismus gar nicht gekümmert. Und als mein Gedankengebäude fertig war, da ging mir die Vorstellung auf: Du hast ja einen Beitrag zum Darwinismus geliefert.
[450/04] Nun finde ich, daß es namentlich die Soziologen nicht so machen. Sie fragen erst bei den darwinistisch denkenden Naturforschern an: Wie macht ihr es? Und dann übertragen sie deren Methoden auf ihr Gebiet. Sie begehen dabei einen großen Fehler. Die Naturgesetze, die im Reich der organischen Natur walten, übertragen sie einfach auf das Gebiet des menschlichen Geisteslebens; es soll für die menschliche Entwicklung genau dasselbe gelten, was an der tierischen zu beobachten ist. Nun liegt in dieser Auffassung zweifellos ein gesunder Kern. In der ganzen Welt ist gewiß eine gleichartige Gesetzmäßigkeit zu finden. Aber es ist durchaus nicht notwendig, daß deshalb auch dieselben Gesetze sich auf allen Gebieten betätigen. Die Gesetze, welche die Darwinisten gefunden haben, wirken im Tier- und Pflanzenreiche. Im Menschenreiche haben wir nach Gesetzen zu suchen, die im Geiste der darwinistischen gedacht sind - die aber diesem Reiche ebenso spezifisch eigen sind wie die organischen Entwicklungsgesetze den genannten Naturreichen. Eigene Gesetze für die Menschheitsentwicklung haben wir zu suchen, wenn diese auch im Geiste des Darwinismus gedacht sein werden. Ein einfaches Übertragen der Gesetze des Darwinismus auf die Entwicklung der Menschheit wird zu befriedigenden Anschauungen nicht führen können.
[450/05] Mir ist das besonders wieder bei der Lektüre des Buches aufgefallen, um dessentwillen ich diese Gedanken niederschreibe: « Die soziale Frage im Lichte der Philosophie » von Dr. Ludwig Stein (Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart 1897). Die Betrachtungsweise des Verfassers wird durchaus von der Absicht beherrscht, die soziale Frage in einem Sinne zu behandeln, der dem in der darwinistischen Naturwissenschaft herrschenden entspricht. « Was Buckle vor einem Menschenleben für den Begriff der Kausalität in der Geschichte geleistet hat, daß er nämlich, unterstützt von der aufkommenden Statistik, dessen unbedingte Geltung für das gesamte geschichtliche Leben nachwies, das muß heute, nachdem wir die Errungenschaften Darwins und seiner Nachfolger eingeheimst haben, für den der Entwicklung geschehen » (S. 43). Von dieser Tendenz ausgehend untersucht Ludwig Stein, wie sich die verschiedenen Formen, von denen das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen beherrscht wird, entwickelt haben. Und er sucht zu zeigen, daß dabei « Anpassung » und « Kampf ums Dasein » dieselbe Rolle spielen wie in der tierischen Entwicklung. Ich will zunächst eine von diesen Formen herausgreifen, um die Betrachtungsweise Steins anschaulich zu machen: die religiöse. Der Mensch findet sich inmitten verschiedener Naturgewalten. Diese greifen in sein Leben ein. Sie können ihm nützlich oder schädlich werden. Nützlich werden sie ihm, wenn er Mittel findet, durch die er die Naturgewalten in dem Sinne verwenden kann, daß sie seinem Dasein dienen. Werkzeuge und Einrichtungen erfindet der Mensch, um sich die Naturgewalten dienstbar zu machen. Das heißt, er sucht sein eigenes Dasein demjenigen seiner Umgebung anzupassen. Es mögen viele Versuche gemacht werden, die sich als irrtümlich erweisen. Unter unzählig vielen werden aber immer solche sein, die das Rechte treffen. Diese bleiben die Sieger. Sie erhalten si& Die irrtümlichen Versuche gehen zugrunde. Das Nützliche erhält sich im « Kampf ums Dasein ». Unter den Naturgewalten findet der Mensch neben den sichtbaren auch unsichtbare. Er nennt sie neben den rein natürlichen die göttlichen Mächte. Er will sich auch diesen anpassen. Er erfindet die Religion mit dem Opferdienst und glaubt dadurch, die göttlichen Mächte zu bewegen, daß sie zu seinem Nutzen wirken. In derselben Weise betrachtet Stein die Entstehung der Ehe, des Eigentums, des Staates, der Sprache, des Rechtes. Alle diese Formen sind entstanden durch Anpassung des Menschen an seine Umgebung; und die heutigen Formen der Ehe, des Eigentums usw. haben sich deswegen erhalten, weil sie sich im Kampfe ums Dasein als die den Menschen nützlichsten erwiesen haben.
[450/06] Man sieht, Stein sucht einfach den Darwinismus auf das menschliche Gebiet zu übertragen.
[450/07] Ich werde nun in einem folgenden Artikel an der Hand des genannten Buches zeigen, wohin eine solche Übertragung führt.

Rudolf Steiner